Don’t push the river

retoeugster_2011_150Ein Gespräch mit Reto Eugster über neue Beratungsformen. Online-Beratung ist das Stichwort: Wird Online-Beratung die klassische Beratung verdrängen? Das Gespräch führte Claudia Deuber.

Reto Eugster, Leiter des Weiterbildungszentrums FHS St.Gallen, beschäftigt sich als Webflaneur und Wis­senschaftler mit dem Internet. Seit 1994 ist er online. Er arbeitet bei Projekten für E-Beratung mit und lehrt Beratungsmethodik im Masterstudium Beratung. Zudem ist er Mitbegründer und Leiter des Master­studiums Social Informatics. 

Die FHS St.Gallen bietet seit 2000 das Masterprogramm Social Informatics. Im Rahmen dieser Lehrgänge geht es auch um Online-Beratung: Details zum Master Social Informatics.

Claudia Deuber: Ist die Face-To-Face-Beratung psychosozialer Organisationen ein Auslaufmodell?

Reto Eugster: Nein, aber die Formen der Beratung werden vielfältiger und eBeratung wird zur Option. Im Zuge dieser Entwicklung verändern sich Erwartungen an Beratung. In vielen Branchen ist der Prozess fortgeschritten.

Auch in der Sozialen Arbeit und der psychologischen Beratung?

Es bestehen erfolgreiche Ansätze. Schauen sie sich die E-Beratung von Tschau.ch an. Jugendliche kön­nen sich zuerst selbständig informieren. Dann triagieren sie mit der Wahl des Themen­schwer­punktes ihr Anliegen in den zuständigen Bereich. Geht es um Rechts­beratung oder stehen Beziehungs­fragen an?

Der Beratungsprozess unterscheidet sich von der Face-To-Face-Situation.

Es macht keinen Sinn, E-Beratung als Abbild klassischer Beratung zu denken. E-Beratung ist quali­tativ anders.

Worin besteht das Neue?

Zugang zu Beratung und Prozess sind anders. Für E-Beratung gibt es eine eigene Methodik. Die Komple­mentär­rollen Klient/Professional sind relativiert, wir haben es nun mit Usern und nicht mit Klienten zu tun. Diese können Dienstleistungen niederschwellig vergleichen. Sie stellen ihre Frage verschiedenen Dien­sten und vergleichen die Ergebnisse.

Welche Beratungsformen unterscheiden sie?

In unserem Masterstudium Beratung differenzieren wir zwischen Informations-, Exper­ten- und Prozess­be­ratung. Die Begriffe sind fürs erste selbsterklärend.

Welche dieser Formen der Beratung ist am stärksten vom Wandel betroffen?

Das Informationsgespräch ist in vielen Branchen neu erfunden worden, denken sie an das Reisebüro, die Buchhandlung, die Versicherung. Durch die neue Form der Expertenberatung, wie sie Medgate.ch bie­tet, wird das Gespräch im ärztlichen Behandlungszimmer nicht obsolet. Aber der klassische Pa­tienten-Arzt-Kontakt ist mit neuen Erwartungen konfrontiert. „Die Patienten erwarten, dass ich Vertrauensper­son und Suchmaschine bin“, fasst ein Arzt bei Twitter zusammen.

Gibt es im Sozialwesen ähnliche Entwicklungen?

Wagniskapital fehlt und Innovation ist konfliktgetrieben oder Ergebnis von Knappheit. Anderseits: Nehmen wir die Kinder- und Jugendarbeit als Beispiel. Online Services zeigen, in welche Richtung es gehen könnte. Nehmen sie die SMS-Beratung der Pro Juventute oder die Sozialberatung des Beobach­ters als Beispiele. Face-To-Face-Elemente sind hier mit E-Beratung kombiniert. Solche hybriden Formen sind zukunftsträchtig.

Haben sich die Erwartungen der Klientel an Beratung verändert?

Nun gibt es die Googleristi. Sie ermitteln und recherchieren in eigener Regie, bevor sie, wenn über­haupt, Beratung aufsuchen. Ein Mitarbeiter einer Pro-Senecute-Stelle erzählte mir, die Angehörigen, die früher vor dem Heimeintritt eines Familienmitgliedes ein Informationsgespräch wünschten, würden sich vermehrt im Netz informieren. Dann sei ihnen jeder Gang zur Beratungsstelle zu viel und telefonische Kontakte dienten bloss der Überprüfung eigener Recherche.

Bedeutet dies, dass psychosoziale Dienstleistungen weniger nachgefragt werden?

Die Nachfragesituation verändert sich in qualitativer Hinsicht. Professionalität mit Standardisierung gleich­zu­setzen, wie dies im Trend liegt, ist ein Irrweg. Wir brauchen eine Profes­sionali­tät, die sich an der Einzelsituation misst und im Einzelfall bewährt. Gesucht werden High Profes­sionals, Persönlichkeiten, die fähig sind, ihre Expertise kommunikativ zu verankern.

Ist der Umkehrschluss zulässig: Verschwinden andere Beratungsformen im Netz?

Beratung 2.0 wird einen Grossteil des Beratungsbedarfs decken. Vor allem drei Dienstleistungstypen werden via Internet angeboten: Beratungsevents, die standardisierbar sind, Dienstleistungen, die im Self-Service abgewickelt werden und all jene, die beim Peer-Support besser aufgehoben sind.

Peer-Support, was ist damit gemeint?

Ich denke an Freundeskreise, die Basis von Social Media. Communities werden wichtiger. Entscheidend ist: Sie werden selbstverständlich, auch abseits von Facebook und Co. Bereits heute kommt ein Grossteil der Kaufentscheidungen von Jugendlichen gestützt auf Freundschafts­empfeh­lungen zustande. Oder denken sie an Community-Tools wie Tripadvisor.de, die Smart­phone-Standard sind.

Sie deuten einen tiefgreifenden Wandel an.

Wir erleben die Industriealisierung der Dienstleistung, wie Dueck sagt, eine Kannibalisierung durch das Internet. Beratung im Buchladen? Das Internet bietet passgenauere Informationen. Reiseempfehlung? Freundschaftstipps im Internet sind verlässlicher. Partnerwahl? Internet-Plattformen bieten E-Beratung parallel zu webbasierter Partnervermittlung an.

Heikler ist diese Entwicklung für die Medizin.

Dienstleistungen eines Hausarztes kommen gegen das Internet häufig nicht an. „Schauen wir doch kurz im Internet, was dazu steht“, sagt der Hausarzt, nachdem der Patient lange im Wartzimmer gewartet hat, und dreht den Bildschirm zum Patienten. „Das müsste ich zuerst nachlesen, um es genau sagen zu können“, ja, und wo wird es der Arzt nachlesen?

Sie werden nicht behaupten wollen, es brauche weniger Ärzte.

Nein, aber es braucht andere Ärzte für andere Dienstleistungen. Dort, wo der Wert einer Face-To-Face-Kom­mu­ni­kation deutlich wird, gibt es die klassische Konsultation weiterhin. Aber eben: nur dort. Und sie wird künftig eine andere sein, weil sie in ständiger Konkurrenz zu anderen Beratungs­formen steht.

Ratsuchende sind via Google bereits informiert, bevor sie Beratung aufsuchen.

Die Entwicklung weist über die Googleristi hinaus. Nun wird Social Media wichtig. Formen des Peer-Supports entstehen: Der Freund meines Freundes war in einer ähnlichen Situation. Er kennt den Arzt, der ihm damals den entscheidenden Hinweis gab. Das Ärzte-Ranking in Communities ist Alltag, auch dort, wo es nicht als solches ausgeflaggt ist.

Werden neue Technologien diese Entwicklung forcieren?

Natürlich ist mit technologischer Innovation zu rechnen. Aber das ist nicht der Punkt. Die Selbst­ver­ständlichkeit ist bemerkenswert, mit der Social-Media-Praktiken in den Alltag einbrechen. Aus der Community erfahre ich, wie ich Wachstropfen aus dem Hemd bekomme, aber auch, welches Medika­ment gegen Sinusitis wirkt und welche Psychologin empfohlen ist.

Sich darauf zu verlassen, ist riskant. 

Wer Social Media nutzt, wird Teil eines gigantischen Austausch- und Empfehlungssystems. Die Richtig­keit einer Empfehlung kann oft nicht überprüft werden. Aber es gibt Methoden, mit denen die Ver­trauens­würdigkeit des Ratgebers eingeschätzt wird. Ich spreche von der sozialen Eichung einer Information: Was ist eine Information Wert? Jüngere Generationen verfügen zunehmend über die Kompetenz, Social-Media-Informationen sozial zu eichen.

Was bedeutet das konkret?

Es gibt nicht bloss Freunde, sondern enge Freunde, Freunde, die parallel analog/virtuell wichtig sind, „Schwätzer“ usw. Es bilden sich Rollen und Routinen. Erst im Bezug zum sozialen Kontexte gewinnt eine Information ihren Wert. Wenn die Tochter bei Twitter die Song-Zeile postet, „And watch me burn“, können die Eltern die Wörter verstehen, doch die Worte nicht ergründen. Sie sind kontextfern. Die Zeile der Tochter ist öffentlich und bleibt doch privat.

Sobald es um professionelle Kontexte geht, wird zum Problem, dass Experten- und Betroffenen­perspek­tive nicht unterscheidbar sind.

Der Punkt ist nicht, dass die Perspektiven nicht unterscheidbar sind, sondern dass dies nicht mehr als Nachteil gesehen wird.

Aber das Risiko bleibt.

Die Wahrnehmung ist oft eine andere, gerade wenn es um psycho­soziale Dienst­leistungen geht und vor allem bei jüngeren Generationen. In einem sozialen Netzwerk kann ich den Freund meines Freundes  niederschwellig und zumutungslos fragen. Verglichen mit den Klientifizierungs­risiken professioneller Hilfe schätzen User die Risiken des Netzes als bescheiden ein.

Was meint Klientifizierungsrisiko?

Die Klientenrolle ist mit Nebenwirkungen belastet. Das ist mit diesem Begriff gemeint. Anders im Netz: keine An­melde­frist, kein Wartezim­mer, kein persönliches Exponieren.

Es scheint, als müssten Dienstleistungen legitimiert werden, wenn sie Face-To-Face abgewickelt werden.

Gute Gründe für Face-To-Face-Beratung wird es weiterhin geben. Aber die Wahl ist begründungs­pflich­tig. Die Frage, die sich Profes­sionals gefallen lassen müssen, lautet: Was kann ich in der direkten Kom­munikation bieten, das nicht gleichwertig, umstandsloser, mit geringeren sozialen Risiken usw. im Netz zu bekommen ist?

Wir sind nicht geübt, uns solche Fragen zu stellen.

Haben sie die Veränderungen in der Bildung beobachtet? Noch vor kurzem haben wir an unserem Weiterbildungszentrum geglaubt, die via Web angebotenen neuen Weiterbildungsformen würden uns irgendwann später betreffen.

Sie sprechen von den Massive Open Online Courses?

Ja. Kostenlos bieten Hochschulen Online-Seminare an. Orts- und zeitunabhängig kann sich jeder Wissen aneignen und das Gelernte mittels Social Media vertiefen. Nun kommen die ersten mit Leistungsnach­weisen (ECTS), die sie auf Studien anrechnen wollen. 

Dabei wird die klassische Frage, was gute Bildung sei, nicht ausgehebelt.

Was sich verändert, ist der Hintergrund, vor dem sich diese Frage stellt. Wir sprechen vom Flipped Classroom. Bisher fand die Aneignung des Stoffs im Klassenzimmer und die Reflexion des Ge­lern­ten zu Hause statt. Nun ist es umgekehrt. Für das Lernen des Stoffs braucht es kein Klassenzimmer, und die Reflexion findet im sozialen Austausch statt, im virtuellen Klassenzimmer. Als Hochschule müssen wir uns auf solche Tends einstellen.

Was ist der Kern der Veränderung?

Sich Grundlagenwissen aneignen zu wollen, ist zu wenig Anlass, anzureisen, in einen Saal zu sitzen, zu einer fixen Zeit vorfabrizierte Folien zu sichten usw. Unsere Stärke als Hochschule ist die Veredelung des Grundlagenwissens, der Transferbezug, das Individualisieren von Lernpfaden. Face-To-Face kann wichtiger Aspekt sein. Die Frage aber ist, welcher konkrete Wert daraus entsteht. Die Industriealisierung des Lernens und der Lernprozess als Unikat stehen in einem Spannungsverhältnis zueinander.

Die Parallelen zur psychosozialen Beratung sind unverkennbar. Was bedeutet das für die Zukunft.

Prognosen wage ich keine. Sich auf Zukunft einzustellen, setzt die Bereitschaft voraus, visionäres Poten­zial zu entwickeln. Andernfalls bleibt nur das Stolpern durch sich verändernde Umwelten.

Kein Pessimismus, trotz Verlust an Privatsphäre, trotz NSA?

Stichworte, die oft für einen Aufgeregtheitsjournalismus stehen, dem intelligenter Content fehlt. Ich halte es für soziologisch naiv, vom Verschwinden der Privatsphäre zu sprechen. Was zu beobachten ist, ist die Veränderung dessen, was für privat gehalten wird. Mein Fazit ist schlicht: Dont’t push the river. It flows. Ein Tabori-Wort.

Foto Reto Eugster, Leiter des Weiterbildungszentrum FHS St.Gallen
Publiziert auch in der Zeitschrift der Pro Menta Sana, Herbst 2014.