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Gesundung dank Online- und Peer-Beratung

Im Zeitalter der Digitalisierung verändern sich auch die Möglichkeiten in der Beratung. So beispielsweise auch in der Beratung zu psychosozialen Fragen. Pro Mente Sana bietet seit rund einem Jahr E-Beratungen an. Das Spezielle daran: nicht nur Fachpersonen beraten, sondern auch sogenannte Peers. Also Expert_innen in psychischer Erschütterung und Gesundung, die eigene Gesundungswege (Recovery-Wege) gegangen sind und ihre Erfahrung nutzen, um anderen hilfreich zur Seite zu stehen.

Ein Gespräch mit Thomas Bögli (rechts im Bild), Fachverantwortlicher Beratung bei Pro Mente Sana, und Lukas Hohl (links), Peer-Berater.

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Warum bietet Pro Mente Sana E-Beratung an?

Bögli: Bei uns war das ein strategischer Entscheid. In einer Online-Beratung können hilfe- oder ratsuchende Personen anonym über ihre Probleme oder Fragen «reden». Vielen fällt dies leichter, als wenn sie in einem persönlichen Gespräch oder Telefonat ihre Anliegen formulieren müssen. Zudem müssen sie ihre Identität nicht preisgeben. Diese Anonymität gibt psychisch kranken Personen die Gelegenheit sich überhaupt mal zu äussern. Wer will schon als «Psycho» abgestempelt werden? Studien zeigen, dass ca. 40 bis 60 Prozent psychisch beeinträchtigter Menschen nicht die nötige Behandlung erhalten, aus Angst vor Stigmatisierung.

Hohl: Ich habe schon mehrere Jahre Erfahrung in der schriftlichen Beratung. Da die Ratsuchenden ihr Problem formulieren müssen, geschieht bereits etwas in ihnen drin. Die Beratung oder die Hilfeleistung fängt bereits beim Verfassen der Anfrage an und nicht erst, wenn wir antworten. Für viele ist es schon eine Wahnsinns-Leistung, überhaupt eine E-Mail zu verfassen.

Sehen Sie weitere Vorteile in der E-Beratung gegenüber der Face-to-Face-Beratung?

Bögli: Für Personen, die abgelegen wohnen oder nicht mobil sind, ist die E-Beratung sehr hilfreich. Auch für Menschen, die unter Angst- und Panikattacken leiden und kaum noch ausser Haus gehen, ist diese Beratungsart eine grosse Hilfe. Wenn man einen Termin bei einer Fachperson hat und es geht einem nicht so gut, dann lässt man vielleicht den Termin platzen. Bei der Online-Beratung kann man die Frage stellen, wann die Befindlichkeit stimmt und unabhängig davon, wo man gerade ist. Auch beim Formulieren kann man sich Zeit lassen.

Und welches sind die Nachteile der anonymen Beratung?

Bögli: Als Berater nehme ich im persönlichen Gespräch viel mehr Informationen auf, weil ich alle Sinne einsetzen kann. Dies kann natürlich Vor- und Nachteil sein. Der visuelle Eindruck verleitet zu Interpretationen. Man läuft Gefahr, das Gegenüber vorschnell in eine Schublade zu stecken und sich ein (Vor-) Urteil zu bilden. Ein wesentlicher Vorteil des direkten Gesprächs ist natürlich die Verständigung. Ich kann nachfragen und sofort klären, wenn ein Missverständnis auftritt. Und ich setze unterschiedliche Hilfsmittel ein, wie beispielsweise einen Flipchart wo ich etwas aufzeichnen kann. Im Gespräch kann ich den Beratungsprozess steuern. In der E-Beratung streben wir dies nicht an. Wir beraten nach dem Konzept: Eine Frage, eine Antwort.

Bei Pro Mente Sana können die Klienten wählen, ob sie von einer Fachperson oder einem Peer beraten werden möchte. Lukas Hohl, Sie arbeiten als Peer. Warum?

Hohl: Ich bin Theologe und hatte vor einigen Jahren eine schwere Depression. Zudem bin ich auch Angehöriger einer erkrankten Person. Mein Sohn war im Alter zwischen 18 und 26 Jahren in einer schweren Krise. Mir gibt es ein gutes Gefühl, dass ich jetzt als Peer arbeiten darf. Ich kann die schlimmen Phasen, die ich selber durchlebte, nutzen und anderen mögliche Wege zeigen, aus der Krise zu finden.

Bögli: Genau das ist das zentrale Element der Peer: Ihr habt eine Expertise, die keine therapeutische Fachperson haben kann, weil Ihr die Krankheit selber erfahren habt.

Hohl: Aus der Theologie kannte ich schon die Methode des Empowerment. Deren Prinzip ist in der psychosozialen Beratung sehr wichtig. Man muss die Leute ermuntern und bestärken in ihren Zielen. Auch wenn diese Vorhaben vielleicht für das Umfeld unrealistisch klingen. Wenn mir jemand mitteilt, dass er nun nicht mehr im Wohnheim leben möchte oder sich jetzt eine Arbeit suchen will, dann antworte ich sicher nicht, ob sie oder er sich das wirklich gut überlegt hat, sondern bestärke die Person darin, dies zu tun.

Wie gehen Peers damit um, dass sie teilweise wieder mit ihrer eigenen Geschichte konfrontiert werden?

Bögli: Das ist sehr individuell. Du (zu Lukas Hohl) hast eine gute Distanz zu deinem Erleben in der schweren Depression. Bei anderen können in Beratungsgesprächen oder in Recovery-Gruppen die Emotionen überschwappen und geraten vielleicht in eine Krise. Auch während der Ausbildung zum Peer kommt es vor, dass die Auseinandersetzung mit Erlebnissen in der Psychiatrie wieder alles aufwühlt und zu viel wird. Einige brechen dann ab.

Hohl: Bei mir ist der Weg aus der Krise schon so weit weg, dass ich mich zwar gut zurückversetzen kann, ich aber mein Risiko für einen Rückfall gering einschätze. Ich finde aber, dass ein Rückfall für die betroffene Person auch ein Fortschritt sein kann, um das Erlebte definitiv zu verarbeiten.

Bögli: Darum spricht man eigentlich von Vorfall und nicht von Rückfall. Übrigens, selbst wir Fach-Experten sind nicht davor gefeit, auf Themen zu reagieren. Ich bin ebenfalls Angehöriger. Mein Bruder litt an Schizophrenie und ich selber kenne mein Risikopotential für ein Burnout. Wichtig finde ich, dass man sich solcher Gefahren bewusst ist und präventiv handelt, bevor man in eine Krise gerät.

Thomas Bögli, Sie haben bei uns den Lehrgang in Online-Beratung absolviert. Wieso?

Ich habe bei Pro Mente Sana mit dem Auftrag, die E-Beratung aufzubauen, angefangen. Da ich bis dahin als ganz normaler Internet-Nutzer unterwegs war, musste ich mir weiteres Wissen aneignen. Mir waren beispielswiese die soziologischen und philosophischen Überlegungen hinter dem Internet nicht bekannt. Auch über Social Media wusste ich wenig. Im Lehrgang habe ich all das gelernt und viel profitiert. Auf gut Berndeutsch: äs hät total gfägt.

Warum?

Weil wir das Internet konkret erlebt haben. Stefan Ribler, unser Lehrgangsleiter, hat beispielswiese einen Unterrichtstag in einer geschlossen Facebook-Gruppe durchgeführt. Es war enorm, wie viel Wissen wir an diesem Tag unter den 16 Teilnehmenden ausgetauscht haben. Man stellte eine Frage und innert Kürze erhielt man dazu Informationen, die man sonst vermutlich in tagelanger Recherche-Arbeit hätte zusammen suchen müssen. Praxisorientierung wird gelebt. Jeder von uns hatte ein Projekt aus der eigenen Organisation und arbeitete daran. Ich konnte all das, was ich gelernt hatte, unmittelbar anwenden und für den Aufbau unserer E-Beratung nutzen. Die Wertschöpfung aus dieser Weiterbildung ist also sehr gross.

Lukas Hohl und Thomas Bögli, ich danke Ihnen für das sehr angeregte und interessante Gespräch.

Hier finden Sie weitere Informationen über Peer-to-Peer-Beratungen und der E-Beratung von Pro Mente Sana.