«Wir müssen den älteren Mitarbeitenden Sorge tragen»

Der demographische Wandel beschäftigt das Gesundheitswesen wie keine andere Branche. Doch nicht nur Patientinnen und Patienten werden älter, sondern auch die Pflegenden selbst. Mit welchen Herausforderungen haben Mitarbeitende über 50 zu kämpfen und wie gelingt es, sie im Beruf zu halten? Solchen und anderen Fragen ist Dagmar Steinle in ihrer Masterarbeit nachgegangen. Die 43-Jährige arbeitet als Leiterin Pflege in der Frauenklinik des Kantonsspitals St.Gallen und hat an der FHS St.Gallen den Weiterbildungsmaster Health Service Management absolviert. Im Interview spricht sie über die Vorteile der Generation 50+, die Vorurteile gegenüber älteren Mitarbeitenden und die Verantwortung der Führungskräfte.

Frau Steinle, Sie sind verantwortlich für rund 180 Mitarbeiterinnen. Mehr als ein Viertel ist über 50. Was beschäftigt diese Generation im Berufsleben am meisten?

Manche haben Mühe, im Schichtbetrieb zwischen dem Tag- und Nacht-Rhythmus zu wechseln. Das führt dazu, dass sie nicht mehr gut schlafen und übermüdet sind. Deshalb ist der Nachtdienst die wohl grösste Herausforderung für diese Generation. Ein Thema ist zudem das körperliche Arbeiten, das bei einigen zu Rückenproblemen und zur Erschöpfung führt. Einigen fällt es auch zunehmend schwer, sich neuen Situationen anzupassen.

Was spricht denn überhaupt noch für ältere Mitarbeitende?

Sie sind in verschiedenen Bereichen sehr geeignet. Unter anderem für Projekte in der Teamentwicklung oder für Fachgespräche. Aufgrund ihres grossen Erfahrungsschatzes kann man sie auch in der Patientenedukation sehr gut einsetzen: zum Beispiel, wenn es darum geht, einer Diabetikerin zu zeigen, wie sie die Insulin-Spritze richtig setzt oder einer jungen Mutter, wie sie ihr Kind baden soll. In gewissen Abteilungen – unter anderem im Gebärsaal – sind ältere Fachkräfte sehr erwünscht. Wer ein Kind zur Welt bringt schätzt, den Erfahrungswert einer älteren Hebamme und möchte nicht nur von jungen Hebammen umgeben sein.

Sie geben also jemandem über 50 dieselben Chancen?

Auf jeden Fall. Erst kürzlich habe ich eine Hebamme in diesem Alter eingestellt.

Sind ältere Mitarbeitende nicht öfters krank als jüngere?

Im Gegenteil:  Ältere melden sich weniger häufig krank. Wenn sie krankheitshalber ausfallen, dann erfahrungsgemäss länger als jene unter 50 Jahren. Dennoch weisen Jüngere insgesamt mehr Kranktage auf. Dass ältere Mitarbeitende häufiger krank sind, ist also eines der Vorurteile, das ihnen anhaftet.

Welche Vorurteile gibt es sonst noch?

Manchmal hört man, die Generation 50+ sei langsamer, schwächer und nicht mehr engagiert.

Was unternehmen Sie, um solchen Vorurteilen entgegenzuwirken?

Ich zeige den Beteiligten klar auf, dass ein altersdurchmischtes Team besonders grosse Benefits  mit sich bringt. Das ist auch eine wichtige Erkenntnis aus meiner Masterarbeit. Jüngere profitieren von der Erfahrung der Älteren, denn diese geben ihr Wissen weiter. Dafür können die Jungen besonders gut auf Knopfdruck funktionieren – eine Eigenschaft, die zum Beispiel auf der Neonatologie sehr gefragt ist.

Wäre es denn nicht möglich, die Älteren von den körperlichen Arbeiten zu entlasten?

Das ist schwierig. Wenn man zum Beispiel am Wochenende alleine im Nachtdienst ist, kann man nicht einfach sagen: «Ich lagere diese Patientin jetzt nicht um, weil mir der Rücken weh tut.» Die körperliche Belastung im Pflegeberuf lässt sich nicht vermeiden.

Aber könnte man ältere Mitarbeitende vom Nachtdienst befreien?

Grundsätzlich ist der Nachtdienst für alle Pflicht. Wenn jemand keinen Nachtdienst mehr leisten kann, müssen die Jüngeren bereit sein, diesen zu übernehmen. Einige machen das gerne, um etwas dazu zu verdienen. Aber das ist nicht selbstverständlich. Es gibt jedoch die Möglichkeit, die Schichtblöcke anders zu gestalten. Statt vier Nächte hintereinander arbeitet die Pflegefachkraft dann zum Beispiel zwei mal zwei Nächte. Damit kann sie sich zwischendurch besser erholen.

Was lässt sich machen, wenn eine Mitarbeiterin mit ihrer Arbeit nicht mehr zurechtkommt?
Zunächst geht es darum, die Situation im Gespräch mit ihr zu analysieren und herauszufinden, wo das Problem liegt. Danach gilt es abzuklären, welche Ressourcen die Mitarbeiterin hat und ob man sie diesen entsprechend auf der Abteilung einsetzen kann. Weiter stellt sich die Frage, welche Aufgaben ihr im gewohnte Arbeitsfeld angeboten werden können. Wenn sich dann noch keine Lösung ergibt, bietet sich eventuell ein Wechsel auf eine andere Station an. Mir ist wichtig, dass sich die Mitarbeiterin immer noch wertgeschätzt fühlt und ich sie so lange wie möglich bei mir beschäftigen kann.

Was müssen Institutionen aus dem Gesundheitswesen beachten, damit ältere Mitarbeitende im Beruf bleiben?

Ich habe in meiner Masterarbeit fünf Handlungsdimensionen eines betrieblichen Altersmanagements aufgezeigt, die es zu beachten gilt. Dazu gehören Massnahmen zur Gesundheitsförderung sowie zu einer altersgerechten Arbeitsplatzgestaltung, Personalentwicklung und Personalbeschaffung. Und letztlich muss auch die Unternehmenskultur und -Führung sensibilisiert sein für ältere Pflegemitarbeitende.

Welche Massnahmen daraus setzen Sie nun in Ihrem Berufsalltag um?

Was die Gesundheitsförderung anbelangt, ist das Kantonsspital St.Gallen bereits sehr engagiert. So gibt es zum Beispiel eine ganze Reihe firmeneigener Sportangebote. Eine Massnahme, die ich im Bereich Arbeitsplatzgestaltung umsetze, ist eine möglichst altersdurchmischte Teamkonstellation. Im Bereich Personalentwicklung bin ich bemüht um regelmässige Mitarbeitergespräche und einer Laufbahnplanung. Und für die Zukunft sind Schulungen für Führungskräfte denkbar. Es ist wichtig, dass der richtige Umgang mit älteren Mitarbeitenden «von ganz oben» vorgelebt wird. Denn das oberste Ziel ist, die Generation 50+ bis zur Pensionierung zu behalten. Wir müssen den älteren Mitarbeitenden Sorge tragen – allein schon wegen des Pflegefachkräftemangels.