«Die Krise wird die Weiterbildung nachhaltig verändern»

Innovative digitale Unterrichtsformen einerseits, massive Umsatzeinbussen und rückgängige Anmeldungszahlen andererseits: die aktuelle Situation wirkt sich unterschiedlich, aber in jedem Fall einschneidend auf die Weiterbildungslandschaft aus. Bernhard Grämiger ist als Direktor des Schweizerischen Verbands für Weiterbildung (SVEB) nah am Puls der Branche. Im Interview spricht er darüber, inwiefern die Krise die Digitalisierung der Angebote vorantreibt, welche Herausforderungen nach dem Lockdown anstehen und weshalb genau jetzt der richtige Zeitpunkt ist, um sich weiterzubilden.

Herr Grämiger, wie steht es angesichts der aktuellen Krise um die Weiterbildung in der Schweiz?

Das achtwöchige Verbot von Präsenzveranstaltungen hat die Weiterbildungsbranche hart getroffen. Zwar haben einige Anbieter schnell reagiert und ihre Lehrgänge und Kurse digital durchgeführt. Doch der Anteil jener, die auf Online-Unterricht umgestellt haben, wird überschätzt. Wir gehen davon aus, dass er unter 50 Prozent liegt.

Das ist weniger als die Hälfte. Weshalb dieser tiefe Prozentsatz?

Die Gründe dafür sind unterschiedlich: So gibt es Weiterbildungen, welche die Anwesenheit der Teilnehmenden zwingend erfordern und deshalb nicht online durchführbar sind. Sicher haben aber bei einigen Anbietern auch betriebswirtschaftliche Überlegungen dazu geführt, den Betrieb vorerst einzustellen und Angebote zu verschieben. Und nicht zuletzt waren schlichtweg nicht alle parat, ihre Weiterbildungen von heute auf morgen zu digitalisieren, weil sie nicht über die notwendigen Ressourcen verfügten. Die Umstellung verlangt nicht nur die Unterstützung aller Beteiligten, sondern bedeutet auch einen hohen administrativen und finanziellen Aufwand.

«Der Anteil jener, die auf Online-Unterricht umgestellt haben, wird überschätzt. Wir gehen davon aus, dass er unter 50 Prozent liegt.»

Bernhard Grämiger, Direktor des Schweizerischen Verbands für Weiterbildung (SVEB)

Hatten die grösseren Anbieter einen Vorteil? Werden Sie am Schluss überleben?

Wie gut die Anbieter auf die ungewohnte Situation reagieren konnten, ist nicht abhängig von deren Grösse. Der entscheidende Faktor war vielmehr der bereits bestehende Digitalisierungsgrad. Es gibt durchaus kleine Anbieter, die diesbezüglich führend sind und grössere, die Nachholbedarf haben. Die Bereitschaft zur Digitalisierung ist da, aber einige können sie nicht umsetzen, weil die Mittel fehlen. Insofern kommt es durch diese Krise sicherlich auch zu einer Strukturbereinigung. Diejenigen, die Reserven gebildet haben und somit die notwendigen Investitionen tätigen können, sind im Vorteil.

Wie sehr hat die Coronakrise die Digitalisierung im Weiterbildungsbereich vorangetrieben?

Die Krise hat auf jeden Fall zu einem grossen Digitalisierungsschub geführt und wird diese Entwicklung weiter vorantreiben. Um die Anbieter zu unterstützen, haben wir als Verband Webinare angeboten zum Thema digitales Lernen. Das Interesse war mit 300 Teilnehmenden pro Webinar sehr gross. Als Verband haben wir aber schon vor der Krise immer wieder darauf aufmerksam gemacht, dass die Digitalisierung im Weiterbildungsbereich viel Potenzial bietet.

Haben sich durch diese ungewohnte Situation auch unerwartete Chancen ergeben?

Eine Chance liegt möglicherweise darin, dass die Anbieter digitale Unterrichtsformen vermehrt testen und dabei feststellen konnten, dass die Akzeptanz diesen gegenüber hoch ist. Allerdings ist noch nicht klar, ob die Teilnehmenden den digitalen Unterricht im selben Masse akzeptieren, wenn der Präsenzunterricht wieder erlaubt ist.

Falls es bei der hohen Akzeptanz gegenüber digitalen Angeboten bleibt: Könnte es sein, dass der Präsenzunterricht dann irgendwann ausgedient hat?

Präsenz wird auch in Zukunft bei vielen Weiterbildungen eine wichtige Rolle spielen. Etwa bei solchen im Bereich Management. Die soziale Funktion der Weiterbildung bleibt zentral und sie kommt besser zum Tragen, wenn sich die Teilnehmenden auch begegnen. Es ist aber davon auszugehen, dass die Anbieter vermehrt überprüfen, bei welchen Lektionen die Präsenz tatsächlich sinnvoll und notwendig ist.  

Was wird nie mehr so sein, wie es früher einmal war?

Es ist anzunehmen, dass die Krise den Weiterbildungsbereich nachhaltig verändern wird. Zwar können die Anbieter den Präsenzunterricht auch in grösseren Gruppen ab 8. Juni wieder aufnehmen. Aber es gilt, voraussichtlich über mehrere Monate gewisse Schutzmassnahmen einzuhalten. Die Teilnehmenden müssen alle zwei Meter Abstand zueinander halten. Insofern wird es nicht mehr möglich sein, dass sich eine durchschnittliche Gruppe von 16 bis 24 Teilnehmenden in einem kleineren Raum versammelt. Insofern ist der 8. Juni kein Tag, an dem man zur Normalität übergehen kann.

Seit dem 11. Mai sind Präsenzveranstaltungen mit bis zu fünf Personen inklusive Lehrperson wieder erlaubt. Ist diese Lockerung für die Weiterbildungsinstitutionen der Schweiz überhaupt von Nutzen? Oft ist ja die Teilnehmendenzahl höher.

Grundsätzlich ist diese Lockerung nützlich und bedeutet für gewisse Anbieter sicher eine grosse Erleichterung. Der Weiterbildungsmarkt in der Schweiz ist sehr heterogen. Wer mit Kleingruppen oder sogar Einzelpersonen arbeitet, kann wieder voll starten. Für die anderen gäbe es auch die Möglichkeit, die Gruppe aufzuteilen. Man könnten zum Beispiel eine Hälfte per Zoom zuschalten, während die andere präsent ist.

Der SVEB hat gemeinsam mit einer Arbeitsgruppe ein Grobkonzept mit Schutzmassnahmen für den Präsenzunterricht ausgearbeitet. Die Arbeitsgruppe hat zudem geprüft, ob ein Vorstoss für eine frühere Wiederaufnahme von Präsenzveranstaltungen mit grösseren Gruppen lanciert werden soll. Wie ist da der Stand?

Die Arbeitsgruppe hat entschieden, keine frühere Öffnung zu fordern. Unter anderem auch deshalb, weil die Dauer zwischen den beiden Lockerungsmassnahmen vom 11. Mai und 8. Juni sehr kurz ist und die Anbieter ohnehin Zeit benötigen, sich wieder auf den Präsenzunterricht einzustellen. Die politische Arbeit geht für uns jedoch weiter. Wir werden uns darauf fokussieren, gegenüber Bund und Kantonen aufzuzeigen, welche negativen Auswirkungen die Krise auf die Weiterbildungsbranche hatte und haben wird. Die Umsatzausfälle sind massiv und sehr schmerzhaft. Zudem wird mit den Schutzmassnahmen eine grosse Herausforderung auf die Anbieter zukommen. Wir sind deshalb auch damit beschäftigt, sie bei der Umsetzung zu unterstützen.

Selbst wenn der Präsenzunterricht ab 8. Juni wieder in grösseren Gruppen stattfinden kann, bleibt eine gewisse Unsicherheit. Widerspiegelt sich diese in der Zahl der Anmeldungen?

Viele Weiterbildungsanbieter haben uns mitgeteilt, dass sie in den letzten acht Wochen kaum neue Anmeldungen erhalten haben. Auch nach Juni wird es wohl nicht zu einem Grossandrang kommen. Das liegt nicht nur daran, dass die Teilnehmenden sich jetzt eher zögerlich anmelden. Es ist auch so, dass die Rezession dazu führt, dass Unternehmen ihre Weiterbildungsbudgets kürzen. Wenn man bedenkt, dass über 90 Prozent der berufsorientierten Weiterbildungen vom Betrieb der Teilnehmenden finanziert oder mindestens kofinanziert werden, dann dürften sich diese Budgetkürzungen verheerend auf die Weiterbildungsbranche auswirken.

«Es ist absolut sinnvoll, sich in Zeiten der Krise weiterzubilden. Auch deshalb, weil sich gerade durch sie gezeigt hat, dass viele Geschäftsmodelle nicht mehr funktionieren und neue Kompetenzen erforderlich sind.»

Bernhard Grämiger, Direktor des Schweizerischen Verbands für Weiterbildung (SVEB)

Was können Weiterbildungsanbieter tun, um dennoch am Ball zu bleiben?

Ein wichtiges Mittel ist, die Angebote flexibel zu gestalten: zum Beispiel, indem man weiter in digitale Lehr- und Lernformen investiert. Diese Anstrengungen müssen wiederum kommuniziert werden. Deshalb ist auch ein gutes Marketing notwendig. Nicht zuletzt ist es aber ganz entscheidend, dass die Anbieter die Schutzmassnahmen konsequent einhalten. Die Teilnehmenden müssen sich sicher fühlen, sonst kommen sie nicht.

Was raten Sie jemandem, der über eine Weiterbildung nachdenkt? Ist jetzt wirklich der richtige Zeitpunkt dazu?

Auf jeden Fall. Es ist absolut sinnvoll, sich in Zeiten der Krise weiterzubilden. Auch deshalb, weil sich gerade durch sie gezeigt hat, dass viele Geschäftsmodelle nicht mehr funktionieren und neue Kompetenzen erforderlich sind. Ich bin auch überzeugt, dass die Weiterbildungen durch die Krise beziehungsweise den Einfluss der digitalen Unterrichtsformen noch interessanter und vielfältiger geworden sind. Das steigert den Nutzen für die Teilnehmenden.

Nationale Stimme für die Weiterbildung
Der SVEB engagiert sich als nationaler Dachverband seit 1951 für die Interessen der Weiterbildung. Er zählt rund 720 Mitglieder, darunter private und staatliche Anbieter, Verbände, innerbetriebliche Weiterbildungsabteilungen sowie Einzelpersonen. Deren Anliegen vertritt der SVEB auf politischer, gesellschaftlicher und fachlicher Ebene in allen drei Sprachregionen.