«Das Duzen allein führt keinen Wandel herbei»

Seit über 22 Jahren arbeitet Shenasi Haziri für Coop. Angefangen hat er mit einer dreijährigen Ausbildung zum Detailhandelsangestellten. Heute ist er Verkaufschef in der Verkaufsregion Ostschweiz-Ticino. In dieser Führungsfunktion trägt er die Verantwortung für 34 Filialen und über 1100 Mitarbeitende. Vergangenes Jahr schloss Shenasi Haziri den Executive MBA an der FHS St.Gallen ab. Seine Masterarbeit im Rahmen dieser berufsbegleitenden Weiterbildung widmete er dem Thema «Duzen im Führungsalltag – Mehrwert oder Fluch?». Im Interview spricht er darüber, in welchen Fällen es sich bei der DU-Kultur um reine Kosmetik handelt und welches die wesentlichen Stützen für Zufriedenheit und Leistungsfähigkeit am Arbeitsplatz sind.

Herr Haziri, in Startups mit flachen Hierarchien ist die DU-Kultur eine Selbstverständlichkeit. Aber auch immer mehr Grossfirmen, bei denen sich CEO und Praktikant wohl kaum kennen, führen das Duzen auf allen Ebenen ein. Weshalb?

Die Unternehmenskulturen haben sich in den vergangenen Jahren stark verändert. Hierarchische Strukturen und organisatorische Prozesse werden zunehmend in Frage gestellt. Zurückzuführen ist dieser Wandel auch auf die technologischen Entwicklungen. Vor allem Startups, die im Zuge der digitalen Revolution entstanden sind, leben neue Unternehmensformen vor. Sich zu duzen, ist dort Standard. Dieser persönlichere Umgang soll Barrieren abbauen, das Silo-Denken aufbrechen und das Miteinander fördern. Will man sich im Markt als modernes und dynamisches Unternehmen positionieren, ist die DU-Kultur möglicherweise eine geeignete Massnahme. Das mag ein Grund sein, weshalb auch grössere Unternehmen wie Banken oder Versicherungen das Duzen auf allen Ebenen einführen. Dagegen ist grundsätzlich nichts einzuwenden, solange es nicht einfach um Symbolpolitik geht.

Was braucht es, damit die DU-Kultur nicht zur Symbolpolitik verkommt?

Die DU-Kultur muss auf einem Fundament aufbauen. Dieses Fundament besteht unter anderem aus Normen und Werten, die ein Unternehmen vertritt. Ein solcher Wert kann sich zum Beispiel darin zeigen, dass Personalentwicklungsstrategien oder Entlohnungssysteme transparent gemacht werden oder dass Mitarbeitende ein Mitspracherecht erhalten.

«Hält ein Unternehmen nach wie vor an Hierarchien fest und möchte mit der DU-Kultur lediglich das eigene Image aufpolieren, handelt es sich dabei um reine Kosmetik.»

Shenasi Haziri, Absolvent des Executive MBA an der FHS St.Gallen

Hält ein Unternehmen aber nach wie vor an Hierarchien fest und möchte mit der DU-Kultur lediglich das eigene Image aufpolieren, handelt es sich dabei um reine Kosmetik. Man kann nicht duschen, ohne nass zu werden.

Sie haben sich in Ihrer Masterarbeit mit der Frage befasst, welche Auswirkungen das Duzen auf die Unternehmenskultur hat. Was hat Sie dazu motiviert, ausgerechnet diesem Thema nachzugehen?

Ich bin immer wieder mit Verfechtern der DU-Kultur in Berührung gekommen. Diese sind der Meinung, dass die Einführung des Duzens ein wichtiger Schritt ist, um die Zufriedenheit und Leistungsfähigkeit der Mitarbeitenden zu erhöhen. Meine Motivation war, mit der Masterarbeit eine Antwort darauf zu finden, ob diese Annahme richtig ist.

Wie lautet die Antwort? Sind Mitarbeitende zufriedener und leistungsfähiger, wenn sich in der Firma alle duzen?

Die Einführung der DU-Kultur kann die Zufriedenheit und Leistungsfähigkeit der Mitarbeitenden anfänglich durchaus stimulieren. Das liegt vor allem darin begründet, dass eine solche Entwicklung Neugierde, Erwartungen und Hoffnungen auslöst. Die Experteninterviews, die ich im Rahmen meiner Masterarbeit mit Führungskräften aus verschiedenen Branchen durchgeführt habe, haben aber aufgezeigt, dass keiner der Befragten feststellen konnte, dass eine DU-Kultur die Mitarbeitenden nachweislich zufriedener und leistungsfähiger macht. Zwar haben sie alle als Mehrwert empfunden, unter anderem, weil sie die Kommunikation erleichtert. Das Duzen allein führt jedoch keinen Wandel herbei. Zufriedenheit und Leistungsfähigkeit haben andere Stützen.

Welche?

Eine wichtige Stütze ist die Wertschätzung. Dazu ist mir ein Satz aus dem Executive MBA besonders in Erinnerung geblieben: «Um jemanden wertzuschätzen, muss man den Wert dieser Person kennen.» Eine Kernkompetenz von Führungskräften besteht deshalb darin, die Mitarbeitenden als Menschen mit individuellen Fähigkeiten zu erkennen und darauf einzugehen. Aber auch die Unternehmen müssen ihren Wert definieren. Wofür stehen wir täglich auf? Wen wollen wir glücklich machen? Das sind Fragen, die man sich in diesem Zusammenhang stellen soll. Denn für die Zufriedenheit und Leistungsfähigkeit ist es zentral, dass eine Tätigkeit als sinnstiftend und nutzenorientiert empfunden wird.

Als Verkaufschef bei Coop sind Sie verantwortlich für 1100 Mitarbeitende. Sind Sie mit diesen per Du?

Ich bin nicht mit allen 1100 Mitarbeitenden per Du, sondern in erster Linie mit Personen, mit denen ich häufig in Kontakt bin: zum Beispiel mit direkt Unterstellten und Stellvertretenden. Dahinter steht kein System. Vielmehr hat sich das Duzen einfach aus der Situation heraus ergeben. Bei uns im Unternehmen wird die Du-Kultur nicht angeordnet. So überlasse ich es auch den Geschäftsleitenden, wie sie es in ihren Filialen handhaben wollen.

«Ich bin überzeugt, dass man seinen Mitarbeitenden unabhängig der Anredeform mit Respekt und Anstand begegnen kann.»

Shenasi Haziri, Absolvent des Executive MBA an der FHS St.Gallen

Ich bin der Überzeugung, dass man seinen Mitarbeitenden unabhängig der Anredeform mit Respekt und Anstand begegnen kann. Entscheidend ist die Beziehung, die man zueinander pflegt. In Zukunft wird die Beziehungskompetenz von Führungskräften eine der gefragtesten Kompetenzen sein. Ob sie mit ihren Mitarbeitenden per Du oder per Sie sind, spielt hierbei aber keine Rolle.

 Sie haben im Rahmen Ihrer Masterarbeit konkrete Handlungsempfehlungen für Ihre Verkaufsregion formuliert. Welches sind die Kernpunkte darin?

Eine Handlungsempfehlung ist, den Wandel und seine Symptome als festen Bestandteil der Strategie zu integrieren. Wir müssen uns also fragen, welche Herangehensweisen wir im Unternehmen brauchen, um auf die neuen Anforderungen der VUCA-Welt zu reagieren. Die weiteren Handlungsempfehlungen sehen vor, Arbeitsgruppen zu verschiedenen Themen zu bilden. Eine davon setzt sich beispielsweise mit dem Generationenmanagement auseinander. Eine weitere widmet sich der Frage, wie Führung im Zeitalter der digitalen Transformation idealerweise aussieht und wie die Mitarbeitenden in Digitalisierungsthemen begleitet werden können. Eine Arbeitsgruppe zur künftigen Arbeitskultur hat die Aufgabe, Massnahmen zu erarbeiten, damit Arbeit vermehrt als sinnstiftend empfunden wird. Die letzte Handlungsunternehmung sieht vor, dass eine Arbeitsgruppe Inhalt und Substanz für die DU-Kultur erarbeitet, damit die Mitarbeitenden diese als Teil der künftigen Unternehmenskultur wahrnehmen. Derzeit haben die Handlungsempfehlungen aufgrund anderer Herausforderungen keine Priorität. Es ist aber angedacht, dass sie langfristig umgesetzt werden.

Welchen Nutzen hat Ihnen Ihre Masterarbeit und die Weiterbildung Executive MBA an der FHS St.Gallen generell gebracht – beruflich als auch persönlich?

Auf persönlicher Ebene sind mir vor allem die guten Beziehungen zu Studierenden und Dozierenden geblieben. Auch habe ich es sehr geschätzt, dass wir uns mit so vielen verschiedenen Themen auseinandersetzen konnten und diesbezüglich auch immer wieder aktuelle Entwicklungen und Diskurse Eingang in den Unterricht fanden. Beruflich habe ich insofern profitiert, als ich viele Inhalte aus der Weiterbildung parallel in den Arbeitsalltag transferieren konnte. So habe ich Methoden kennengelernt, um Veränderungsprozesse anzustossen. Zum Beispiel habe ich gelernt, eine Situation und die Probleme, die diese mit sich bringt, besser zu analysieren. Das hilft mir dabei, fundiertere Lösungen zu finden.