«Jeder kann diakonisch unterwegs sein»

An der FHS St.Gallen startet im Frühling der CAS Diakonie-Entwicklung. Maya Hauri Thoma von der Evangelisch-reformierten Kantonalkirche St.Gallen und Gregor Scherzinger von der Fachstelle Diakonie des Bistums St.Gallen leiten den Lehrgang gemeinsam. Im Interview sprechen die beiden über das nötige Werkzeug für die Diakoniearbeit, über Solidarität und über die Bedeutung von Weihnachten im 21. Jahrhundert.

Frau Hauri Thoma, Sie sind reformiert, Herr Scherzinger, Sie katholisch. Gehen Ihre Meinungen, wie dieser Lehrgang aussehen soll, nicht manchmal auseinander?

Maya Hauri Thoma: Differenzen gibt es nicht, aber gelegentlich Verständnisfragen, die es untereinander zu klären gilt. Denn katholische und reformierte Kirchgemeinden sind unterschiedlich organisiert. Unser Ziel ist es, den Lehrgang so zu gestalten, dass wir beiden Rechnung tragen. In der Diakonie geht es ohnehin nicht darum, sein eigenes Zügli zu fahren, sondern mit verschiedenen Partnern zusammenzuarbeiten: Sei es eine andere Kirchgemeinde, die politische Gemeinde oder beispielsweise die Pro Senectute.

Gregor Scherzinger: Viele laufende Diakonie-Projekte sind bereits ökumenisch geführt. Tut man sich zusammen, entstehen sofort mehr Kapazitäten.

Den Begriff Diakonie verbinden die meisten mit einem kirchlichen Umfeld. Muss man als Teilnehmer dieses CAS Mitglied einer Kirche, beziehungsweise Christ sein?

Scherzinger: Das ist kein Kriterium und stand auch nie zur Debatte. Diakonie heisst, sich für andere einzusetzen. Dieses Ziel sollten wir Menschen gemeinsam verfolgen, unabhängig davon, welchen Glauben wir haben.

Hauri Thoma: Diakonie findet statt, wenn Menschen einander als Menschen begegnen. Somit kann jeder diakonisch unterwegs sein. Ich fände es sogar sehr spannend, wenn auch Vertreterinnen und Vertreter anderer Glaubensrichtungen, zum Beispiel Muslime, an diesem CAS teilnehmen würden.

Der CAS Diakonie-Entwicklung ist eine Neuauflage des früheren CAS Diakonieanimation. Was ist anders?

Hauri Thoma: Der Fokus liegt auf der Projektarbeit. Da die Präsenzzeit neu nur noch neun Tage beträgt, haben die Teilnehmenden noch mehr Freiraum, um an ihren eigenen Projekten an ihrem Wirkungsort zu arbeiten. Natürlich werden sie dabei gecoacht.

Was braucht es denn, um diakonische Projekte umzusetzen?

Scherzinger: Die Aufgaben sind vielfältig: Sie reichen von der Sozialraumanalyse über das Gewinnen von Freiwilligen bis hin zu Fundraising und Medienarbeit. Wir wollen den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des CAS das entsprechende Werkzeug mitgeben.

Auch professionelles Krisenmanagement ist Thema in dieser Weiterbildung. Die Absolventinnen und Absolventen sollen in Krisensituationen angemessen reagieren und Eskalation vermeiden können. Ist diese Kompetenz denn nötig in kirchlichen Kreisen?

Hauri Thoma: Auch im kirchlichen Umfeld gibt es Konfliktpotential. Ein Beispiel: Wenn man ein Projekt mit Armutsbetroffenen macht, die alle ihre eigenen Geschichten mitbringen, muss man schon krisenerprobt sein. So kann es vorkommen, dass jemand einfach davonläuft, wenn ihm etwas nicht mehr passt. Auch das Nebeneinander verschiedener Generationen schafft Reibungsflächen. Etwa dann, wenn Jugendliche an einem Ort, den auch die Älteren nutzen, Lärm machen oder Dosen herumliegen lassen. Man braucht Taktgefühl und Geschick, um mit den unterschiedlichen Vorstellungen umgehen zu können.

Scherzinger: Mit «Krise» ist auch gemeint, dass etwas nicht mehr läuft wie geplant. Manchmal stossen Projekte auf Widerstand, weil eine Anspruchsgruppe nicht damit einverstanden ist. Zum Beispiel, wenn man die Kirche bewusst öffnen will für Menschen, die sonst niemand haben will. Etwa Obdachlose.

Hauri Thoma: Wenn plötzlich Leute in die Kirche oder ins Kirchgemeindehaus kommen, die schon länger nicht mehr geduscht haben, kann das bei anderen durchaus Entsetzen auslösen.

Scherzinger: In solchen Situationen muss man in der Lage sein, sein Projekt gut zu begründen. Etwa, indem man klar daran erinnert, dass das Christentum für Solidarität steht und dass es wichtig ist, nicht nur zu verkünden, sondern auch danach zu handeln. Die Glaubwürdigkeit der Kirche hängt daran.

Was wollen Sie den Teilnehmenden des CAS unbedingt vermitteln?

Scherzinger: Ich möchte sie ermutigen, Räume zu schaffen, die offener sind als das Bild einer Kirche mit vier Wänden, einem Dach und einer geschlossenen Tür: Räume, wo man sich begegnen kann. Beim Caritas Markt in St.Gallen haben wir zum Beispiel ein Kafi eröffnet, das allen zugänglich ist. Armutsbetroffene mit einer Kultur-Legi zahlen etwas weniger für ihre Konsumation, die anderen den Normalpreis. Das Ziel ist, dass sich Menschen aus verschiedenen sozialen Schichten treffen.

Hauri Thoma: Mir ist es wichtig, dass die Teilnehmenden ganz viel Inspiration, Ideen und Lust bekommen, um etwas Neues anzupacken. Auch sollen sie Energie gewinnen, denn für die Umsetzung diakonischer Projekte braucht es manchmal einen langen Schnauf.

Bald ist Weihnachten. Welche Bedeutung hat dieses Fest für Sie im 21. Jahrhundert?

Scherzinger: Menschsein heisst, Freuden wie auch Trauer zu erleben. Das Menschsein ist kein Pappenstiel. Sich den Herausforderungen zu stellen, und ihnen nicht davonzulaufen, davon handelt die weihnachtliche Geschichte der Menschwerdung. Sie will ermutigen, dabei die Hoffnung zu bewahren.

Hauri Thoma:  Ich möchte Weihnachten nicht auf ein Datum beschränken. Für mich ist Weihnachten immer dann, wenn Menschen einander Menschen sind, wenn Bedürfnisse wahrgenommen und beantwortet werden.

Zu den Personen:

Seit gut 30 Jahren engagiert sich Maya Hauri Thoma in der evangelischen Landeskirche. «Ich hatte bis auf das Pfarramt fast alle Ämter inne», sagt die ausgebildete Diakonin. Die 59-Jährige ist Gemeinde- und Organisationsberaterin, Supervisorin und Coach BSO. Maya Hauri Thoma leitet die Fachstelle Diakonie der Evangelisch-reformierten Kantonalkirche St.Gallen. In ihrer Freizeit malt die Mutter dreier erwachsener Kinder leidenschaftlich gern.

Gregor Scherzinger hat Theologie studiert und zum Thema theologische Ethik seine Doktorarbeit geschrieben. Auch heute beschäftigt er sich besonders mit sozialethischen Themen. Seit einem Jahr arbeitet der 36-Jährige bei der Caritas St.Gallen-Appenzell auf der Fachstelle Diakonie des Bistums St.Gallen. Zuhause halten ihn seine drei Söhne auf Trab.