Ein ungeplantes Weihnachtstreffen

Die etwas andere Weihnachtsgeschichte, erzählt von Dr. Klüger

Wie in einer Märchenwelt versunken, liegt der Hinterbodenwald unter einer dicken Schicht Schnee. Es ist still an diesem Nachmittag vor Heiligabend. Martin stapft dem Waldrand entgegen. Bevor die Bescherung im engen Familienkreis stattfindet, möchte er in seinem privaten Waldstück zum rechten sehen. Erst vor kurzem hatte ein Unbekannter dort ein kleines Tännchen gefällt, wohl um keinen Weihnachtsbaum kaufen zu müssen.

Noch einmal begutachtet Martin den Strunk, von dem nur noch der oberste Teil unter dem Schnee hervorschaut. Gleichzeitig kratzt er sich mit den dicken Handschuhen am graumelierten Bart. Da hört er etwas knirschen im Schnee. Ein Golden Retriever steuert auf ihn zu. Um den Hals trägt er eine Leine und an dieser krallt sich eine junge Frau fest. Es ist Anna. Sie ist im Wald, um auf andere Gedanken zu kommen, was ihr nicht recht gelingt. Vor einem Jahr hat die Sozialpädagogin nebenberuflich einen Adventskalender für Hunde und ihre Halter lanciert, aber das Geschäft ist nie richtig angelaufen. Nur zwei Bestellungen gab es dieses Jahr.

«Frohe Festtage», murmelt Martin. In diesem Moment bleibt Anna mit der Jacke an einem Brombeerstrauch hängen. Emil, der Golden Retriever bremst ruckartig ab. «Auch das noch», flucht Anna. Was denn los sei, erkundigt sich Martin. Anna erzählt ihm von ihrem Misserfolg mit dem Adventskalender. Da beginnt es bei Martin unter der Wollmütze zu rattern. Zwischen Eiben, Rottannen und Buchen erklärt er Anna, was es braucht, dass aus einer Idee ein innovatives Produkt entsteht, das sich auf dem Markt bewährt. Das und noch viel mehr weiss er aus seinem Studiengang Corporate Innovation Management, den er an der FHS St.Gallen absolviert hat. Anna, ebenfalls FHS-Absolventin, fasst neuen Mut. Sie bedankt sich und will gerade weitergehen, als ein Bub im Kindergartenalter durchs Dickicht kriecht und die beiden mit grossen Augen anschaut.

Martin weiss nicht, was er sagen soll, doch Anna fehlt es nicht an den richtigen Worten. Sie hat an der FHS das Seminar Gesprächsführung mit Kindern besucht und weiss, wie sie selbst in verzwickten Situationen mit den Kleinen einen Dialog aufbauen kann. So erzählt ihr Felix – so heisst der Junge – dass er beim Spaziergang im Wald seinen Eltern davongelaufen sei. Er habe herausausgefunden, dass sich im Weihnachtspäckli nicht der von ihm gewünschte Legolastwagen befinde, sondern eine Holzeisenbahn. Als er Mutter und Vater darauf angesprochen habe, seien diese verärgert gewesen, weil er sich bereits vor der Bescherung am Geschenk zu schaffen gemacht habe. «Und dann», sagt Felix «bekamen wir Streit und ich rannte davon». Anna nickt. Da hört sie aus der Ferne jemanden rufen: «Feeelix». Sie nimmt Felix an der Hand und geht mit ihm der Stimme entgegen. Martin und Golden Retriever Emil trotten hinterher.

Nina und Robert fällt ein Stein vom Herzen, als sie ihren Sohn wieder in die Arme schliessen können. Sie bedanken sich herzlich bei Anna und Martin. Als alle so beisammenstehen, sich gegenseitig frohe Weihnachten wünschen und jeder wieder seines Weges gehen will, kommt eine alte Dame auf sie zu. Sie trägt trotz der Kälte weder Schal noch Mütze. «Entschuldigen Sie, wo geht es hier an den Strand», fragt sie. Im ersten Moment schauen sich alle verdutzt an. Robert, der an der FHS St.Gallen den MAS Dementia Care abgeschlossen hat, merkt sofort: Die Frau ist hochgradig verwirrt. Aber woher kommt sie?

Martin schlägt vor, die weitere Vorgehensweise in seiner Waldhütte zu besprechen, die gleich ein paar Meter weiter liegt. Dort angekommen, serviert er allen einen heissen Punsch. Draussen beginnt es inzwischen heftig zu schneien. Während Robert versucht, aus der Seniorin herauszubekommen, wo sie zuhause ist, kommen Nina und Martin miteinander ins Gespräch. Martin erzählt ihr, dass er die Waldhütte gerne sanieren lassen würde, aber nicht wisse, wo er anfangen solle. Und überhaupt, er kenne sich ja nicht aus mit der Gesetzeslage und allem weiteren. Nina kramt einen Zettel und einen Kugelschreiber aus ihrer Jackentasche und beginnt stichwortartig Tipps aufzuschreiben, worauf er bei diesem Vorhaben achten soll. Seit sie den MAS Real Estate Management an der FHS St.Gallen absolviert hat, kennt sie sich gut aus mit Fragen rund um Immobilien.

Auch Sohn Felix möchte es seinen Eltern gleichtun und einmal an der FHS eine Weiterbildung machen. «Er schwärmt immer vom CAS Flottenmanagement, weil er begeistert ist von grossen Motorfahrzeugen», lacht Nina. Deshalb sei er wohl auch so enttäuscht gewesen, dass er zu Weihnachten keinen Lastwagen bekomme.

Felix scheint seinen Ärger aber bereits vergessen zu haben, denn er spielt nun mit Anna und ihrem Hund Emil Fangis. Sein Vater Robert hingegen ist ganz und gar nicht unbeschwert. Er hat noch immer nichts über die Identität der alten Dame herausgefunden. Da kommt ihm eine Idee. Ein entfernter Bekannter, der an der FHS St.Gallen den CAS Digital Public Services absolviert hat, arbeitet auf der Stadtverwaltung. Er hat ein Online-Forum eingerichtet, wo sich die Stadt und ihre Institutionen mit den Bürgerinnen und Bürgern austauschen können.

«Vielleicht finde ich ja dort einen Hinweis», denkt sich Robert. Er ruft die Plattform über sein Smartphone auf. «Unsere Taschenrechner haben früher noch ganz anders ausgesehen», bemerkt die verwirrte alte Dame neben ihm. Eine Sekunde später sieht Robert ihr Foto auf dem Display. Das städtische Alters- und Pflegezentrum Tulpengarten hat dieses veröffentlicht. «Wer hat Emilia Bergbacher gesehen?», steht darunter. Die 93-Jährige sei am Nachmittag des 24. Dezembers aus dem Heim verschwunden. Wer mehr wisse, solle sich bitte bei der Leitung melden.

Robert wählt die Nummer und ruft an. Die Frau am anderen Ende der Leitung ist erleichtert. Roberts Frau Nina schickt ihr den Standort der Waldhütte. 20 Minuten später rollt der Kleinbus des Alters- und Pflegezentrums heran. Darin ist genug Platz, um alle zurück in die Stadt zu bringen. Dort trennen sich die Wege. Der gemeinsame Nachmittag im Wald wird noch lange in Erinnerung bleiben. Und dank dem, dass jeder seinen Teil beigetragen hat, ist dieser gut ausgegangen.

Die Moral der Geschicht: Eine Weiterbildung an der Fachhochschule St.Gallen hilft nicht nur im Beruf, sondern überhaupt im Leben.

 

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