«Interdisziplinäres Lernen spielt eine grosse Rolle»

Immer mehr Passagiere lösen ihre Tickets per App statt am Schalter. Dieses Beispiel unter vielen zeigt, wie die Digitalisierung den Bahnbetrieb beeinflusst. Sandra Hutterli ist Head of Corporate Training bei der SBB. Als Verantwortliche des Programms «fit4future» trägt sie dazu bei, dass die Mitarbeitenden in den vom technologischen Wandel geprägten Berufsumfeldern nicht auf der Strecke bleiben. Am 29. August referiert die Expertin für Bildung und digitale Transformation am Update für Personalverantwortliche an der Ostschweizer Bildungsausstellung (OBA). Im Interview spricht sie über die Entwicklung digitaler Kompetenzen bei der SBB, über virtuell unterstütztes Lernen, das dabei zum Zug kommt, und über Reiseverkäufer, die zu Kundenberatern werden.

Frau Hutterli, die SBB zählt fast 33 000 Mitarbeitende mit unterschiedlichsten Berufen: Die Gleisbauerin gehört ebenso dazu wie die Immobilienbewirtschafterin, der Rangierer ebenso wie der Application Engineer. Bei welchen Berufsgruppen ist die Weiterbildung in Sachen Digitalisierung am dringendsten?

Die Digitalisierung und Automatisierung betreffen alle 150 Berufsgruppen innerhalb der SBB. Deshalb ist es unser Ziel, sämtliche Mitarbeitenden bedarfsgerecht weiterzuentwickeln. Nehmen wir das Beispiel Gleisbau: Während man früher die Schienen nach einer gewissen Zeit flächendeckend erneuerte, liegen heute digitale Informationen über deren Abnützung vor. Dies bedeutet, dass Gleisbauerinnen und Gleisbauer den Unterhalt punktuell vornehmen. Dazu ist es notwendig, dass die Daten richtig interpretiert werden. Die Datenverarbeitung ist entsprechend einer von fünf Bereichen in unserem Programm zur allgemeinen digitalen Kompetenzentwicklung. Weiter spielen die Sicherheit im Umgang mit Daten und das Lösen von digitalen Problemstellungen eine Rolle. Zudem schulen wir unsere Mitarbeitenden darin, mit Hilfe digitaler Medien zu kommunizieren und Inhalte zu erstellen.   

Sie sind verantwortlich für «fit4future», ein Programm zur Steigerung der digitalen Kompetenzen bei den Mitarbeitenden.  Wie finden Sie überhaupt heraus, wer was lernen soll?

Vor zwei Jahren haben wir damit begonnen, sämtliche Berufsfelder zu analysieren. Das gibt uns Aufschluss darüber, welche Veränderungen auf die einzelnen Berufsfelder zukommen und welche Kompetenzen künftig erforderlich sind. Daraus lässt sich wiederum ableiten, wie wir die Mitarbeitenden dafür qualifizieren. Bei der Berufsfeldanalyse berücksichtigen wir verschiedene Faktoren. Dazu gehören nebst neuen Technologien und veränderten Kundenbedürfnissen auch demografische Entwicklungen: Die SBB steht vor einer grossen Pensionierungswelle. Entsprechend gilt es, neue Fachkräfte zu rekrutieren bzw. Mitarbeitende im Betrieb weiterzuentwickeln. In diesem Zusammenhang müssen wir auch den veränderten Ansprüchen an die Arbeitsmodelle Rechnung tragen. Die Berufsfeldanalysen führen wir bedarfsorientiert wiederholt durch, um grössere neue Veränderungen aufzunehmen und neue Kompetenzen abzuleiten. 

Aufgrund des hohen Spezialisierungsgrads der Berufe, setzt die SBB zu einem grossen Teil auf interne Weiterbildung. Wie sieht diese aus?

Das informelle Lernen, also das Lernen «on the Job», gewinnt stark an Bedeutung. Die Mitarbeitenden eignen sich dabei genau das Wissen an, das auf die Anforderungen im Berufsalltag zugeschnitten ist. Eine grosse Rolle spielt auch das interdisziplinäre Lernen. Um eine Notfallsituation in einem Tunnel zu trainieren sind zum Beispiel mehrere Bereiche involviert. Die Mitarbeitenden der Betriebszentrale, das Interventionsteam des Lösch- und Rettungszugs, die Kundenbegleiter und das Lokpersonal werden gemeinsam ausgebildet

Begeben sich dazu alle in einen Tunnel?

Es ist fast unmöglich, in einer realen Umgebung für einen solchen Ernstfall zu üben. Wir können nicht einfach einen Tunnel blockieren und Rollmaterial beanspruchen, das für den normalen Betrieb benötigt wird. Deshalb setzen wir digitale Mittel ein: Zum Beispiel verfügen wir über virtuelle Modelle von Zügen, die den echten Zügen nachempfunden sind und durch einen Tunnel fahren, der eins zu eins existiert. Die Mitarbeitenden können über den Computer virtuell an Bord gehen. Dort nehmen sie die Rolle ein, die sie auch im wahren Berufsleben ausüben, etwa Lokführer oder Kundenbegleiter. Jeder handelt im virtuellen Zug so, wie er es auch in der Wirklichkeit tun würde – unter anderem bei einem Brand. Die Aktionen – beispielsweise das Betätigen eines Feuerlöschers – lassen sich mit der Maus ausführen. Das Training läuft in Echtzeit ab und auch die Reaktionen der Passagiere sind realitätsnah nachgestellt. Auch damit müssen die Berufsleute im Training und in Realität umgehen können. Das Ganze ist mit einem virtuellen Klassenraum verbunden, wo die Beteiligten unter Anleitung eines Instruktors die Gesamtsituation analysieren und jeder sein eigenes Handeln reflektieren und aus allfälligen Fehlern lernen kann. Aktuell bauen wir die virtuellen Klassenräume auch für allgemeine Schulungen aus.

Über welche Kompetenzen müssen jene verfügen, die anderen neue Kompetenzen vermitteln?

Ausbilderinnen und Ausbilder haben die Aufgabe, relevante Informationen zu bündeln und daraus Wissen zu generieren, das die Mitarbeitenden wiederum zu konkreten Handlungen befähigt. Gerade hinsichtlich der anstehenden Pensionierungen und des Einsatzes von unterschiedlichen Generationen von Anlagen und Zügen, ist der Erhalt und Transfer von Wissen zentral. Nebst dem Vermitteln von Handlungskompetenzen sind Ausbildende auch Kulturförderer. Sie müssen die Mitarbeitenden und deren Arbeitsumfeld verstehen und individuelle Lernarrangements für diese zusammenstellen können. Dabei sind Sozialkompetenz und interpersonelle Kompetenzen wichtig. Nicht zuletzt sind Ausbilder auch Moderatoren, die Lerninhalte methodisch und didaktisch geeignet vermitteln. Sie wissen, wie der Mensch lernt und in welchen verschiedenen Kontexten. Digitales Knowhow ist ebenfalls gefragt: sei es wegen der digital integrierten Lernsettings, die zum Einsatz kommen, oder wegen digitaler Tools wie zum Beispiel Online-Tests.

Die Digitalisierung verändert die Berufswelt. Welche SBB-Berufe sind dadurch verschwunden und welche neuen entstehen noch?

Diese Frage lässt sich nicht absolut beantworten. Berufe wie der Bahnbetriebsdisponent sind bereits früher verschwunden – unabhängig von der Digitalisierung. Grundlegend kann man sagen, dass sich Berufe oder Tätigkeiten schneller verändern. Zum Beispiel wurden die Reiseverkäufer zu Kundenberatern. Denn der Verkauf wird zunehmend digitalisiert. Der Bedarf der Kundschaft, individuell beraten zu werden, hingegen steigt. Wir sind deshalb daran, den klassischen Bahnschalter neu zu organisieren. Die Beratung soll mehr Platz bekommen. Auch Zusammenlegungen von Berufen kommen vor. Früher gab es beispielsweise unterschiedliche Berufe, die in einem Rangierteam zusammengearbeitet haben. In Zukunft sollen die Mitarbeitenden dieser Teams polyvalent alle Tätigkeiten ausüben können, da gewisse Tätigkeiten automatisiert werden. So oder so werden wir uns nicht mehr nur an Berufen und Fachkräften, sondern an Kompetenzprofilen orientieren. Zum Beispiel benötigt man fast in allen Berufen IT-Kompetenzen. Das bedeutet, dass wir uns überlegen müssen, künftig mehr Informatikerinnen und Informatiker auszubilden, die dann auch in anderen Bereichen arbeiten können.

Veränderungen schüren auch Ängste bei den Mitarbeitenden. Wie geht man bei der SBB damit um?

Mit der bereits erwähnten Berufsfeldanalyse schaffen wir Transparenz. Wir zeigen auf, was sich verändert und warum. Die Mitarbeitenden erfahren in diesem Zusammenhang, welche Weiterbildungsmöglichkeiten sie haben. Jeder Geschäftsbereich bietet zudem sogenannte Dialoge an. Dort können Mitarbeiter ihre Ängste und Bedenken äussern. Wir sind überzeugt, dass sich diese nur abbauen lassen, wenn man ihnen Raum gibt.

Wäre es nicht viel einfacher, für veränderte Stellenprofile neues Personal zu rekrutieren, das bereits über die notwendigen Kompetenzen verfügt?

Zum einen sind neue Fachleute mit diesen spezifischen Kompetenzen auf dem Arbeitsmarkt nicht existent – wir müssen diese Kompetenzen bei unseren Mitarbeitenden zuerst selbst entwickeln. Zum anderen verfügt das bestehende Personal über ein Gesamtsystem-Wissen, das unverzichtbar ist. Natürlich kommen wir aber nicht ohne Rekrutierung von neuen Mitarbeitenden aus. Was es braucht, ist eine gute Mischung aus neuen und bestehenden Fachkräften.

Einmal Bähnler immer Bähnler: Bei der SBB die Ausbildung zu machen und sich nach 50 Jahren im selben Beruf pensionieren zu lassen, war keine Seltenheit. Wird es künftig noch solche lebenslangen Karrieren geben?

Es ist sicher nach wie vor so, dass die SBB sehr viele Weiterentwicklungsmöglichkeiten bietet. Ich kann mir aber vorstellen, dass das Bedürfnis der Arbeitnehmenden wächst, auch mal ein anderes Unternehmen kennenzulernen und vielleicht später zur SBB zurückzukehren. Das bedeutet sicherlich eine Bereicherung für beide Seiten. Langjährige Mitarbeitende sind aber ebenfalls wertvoll. Ihr Gesamtsystem-Wissen hilft, in komplexen Situationen die richtigen Entscheidungen zu treffen.