«Alle sollen die gleiche Chance erhalten, sich zu beteiligen»

Als Schulsozialarbeiterin hat Nelly Knöpfel immer wieder die Erfahrung gemacht, dass Kinder und Jugendliche besser lernen und mehr Enthusiasmus entwickeln, wenn sie mitreden, mitwirken und mitentscheiden können. In ihrer Masterarbeit hat sich die 30-Jährige deshalb mit dem Thema Schulsozialarbeit und Partizipationsbildung auseinandergesetzt und dabei 15 konkrete Handlungsleitsätze für die Praxis ausgearbeitet. Im Interview spricht Nelly Knöpfel über den Mehrwert, den die Partizipation generieren kann, über Pseudo-Partizipation und über die Ziele, welche sie mit ihrer Masterarbeit verfolgt.

Frau Knöpfel, seit 30 Jahren sind die Rechte der Kinder in der UN-Kinderrechtskonvention* festgehalten. Artikel 12 sichert das Recht auf freie Meinungsäusserung. Kinder sollen also partizipieren können, wenn es um ihre Anliegen geht, zum Beispiel in der Schule. Wie steht es in der Schweiz darum?

Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern steckt die Partizipation von Kindern und Jugendlichen hierzulande noch etwas in den Kinderschuhen. Die Schweiz hat die UN-Kinderrechtskonvention auch erst im Jahr 1997 ratifiziert. In Deutschland zum Beispiel sind partizipative Projekte an Schulen bereits ziemlich verbreitet. Allerdings ist auch in der Schweiz eine zunehmende Tendenz in diese Richtung zu beobachten – nicht zuletzt dank Forderungen aus der Politik.

Ist es denn überhaupt zielführend, wenn man bei allen Entscheiden zuerst noch die Meinung der Kinder und Jugendlichen abholen muss?

Es geht nicht darum, Kinder und Jugendliche überall partizipieren zu lassen. Vielmehr sollen sie die Chance erhalten, ihre Meinung zu äussern, denn sie sind die Experten für ihre Lebenswelt. Wenn sie an Entscheidungen teilnehmen, heisst das nicht, dass dadurch eine Art Anarchie ausbricht. Es sind nach wie vor die Erwachsenen, welche die Hauptverantwortung für die Partizipationsprozesse tragen. Auch sind gewisse Rahmenbedingungen nicht verhandelbar. So sollen Kinder und Jugendliche zum Beispiel nicht entscheiden können, ob sie überhaupt in die Schule gehen wollen. Aber es ist sinnvoll, wenn sie etwa bei Fragen zur Schulhauskultur mitreden können. Ich bin überzeugt, dass Partizipationsbildung sowohl für die Schülerinnen und Schüler, die Schule aber auch für die Gesellschaft einen Mehrwert bringt.

Welchen Mehrwert?

Aus Forschungsergebnissen aber auch aus meinem Praxisalltag weiss ich, dass Kinder, die bereits früh mit partizipativen Prozessen in Berührung kommen, eine bessere Ausgangslage haben, um zu sozialen, reflektierten und mündigen Erwachsenen heranzuwachsen. Zum Beispiel entwickeln sie dadurch eine funktionierende Moral und können so sozial besser interagieren. Ebenfalls gehören die Steigerung der Konzentrationsfähigkeit und die Fähigkeit eigene Ideen einzubringen und umzusetzen zu den nachweislichen Kompetenzerweiterungen. Ein zentraler Gewinn ist auch, dass Kinder lernen, wie demokratische Prozesse funktionieren. Etwas, das ihnen später, wenn sie sich an gesellschaftlichen Diskursen und Abstimmungen beteiligen wollen, hilft.

Sie haben es vorher selbst angesprochen: Es gibt einen Trend zur Partizipation. Aber was bedeutet dieser Begriff genau?

Partizipation ist tatsächlich etwas zu einem Modewort geworden. Eine einfache Definition ist durch die Komplexität des Begriffs kaum möglich. Denn es handelt sich um einen äusserst vielschichtigen Begriff, der verschiedene Stufen umfasst – von der Fremdbestimmung bis zur absoluten Selbstbestimmung. Grundsätzlich geht es beim Begriff Partizipation aber um Mitsprache, Mitwirkung und Mitentscheidung in Bereichen, von denen man selbst betroffen ist. Das heisst, man wird in der eigenen Lebenswelt selbst aktiv. Allerdings bedeutet das auch, dass der Einbezug der Kinder und Jugendlichen nicht alibimässig erfolgen darf. Sonst spricht man von Pseudo-Partizipation.

Können Sie ein Beispiel nennen für Pseudo-Partizipation?

Um Pseudo-Partizipation handelt es sich beispielsweise, wenn eine Lehrperson die Schülerinnen und Schüler auffordert, zu einem Thema ihre Meinung kundzutun, aber bereits im Vorfeld die Entscheidung getroffen hat, an der auch die Äusserungen der Kinder nichts mehr ändern – oder wenn die Kinder und Jugendlichen zur Mitwirkung aufgefordert werden aber über den Zweck und die Hintergründe nicht transparent aufgeklärt werden und dadurch gar nicht in der Lage sind, die Situation adäquat einzuordnen und sich daraus eine Meinung zu bilden.

Aber ist es für die Lehrpersonen und die Schule nicht viel strenger, Kinder mitreden zu lassen?

Herausfordernd ist es insofern, als die Erwachsenen dafür verantwortlich sind, dass die partizipativen Prozesse funktionieren. Wichtig ist, dass in der Schule alle an einem Strang ziehen, sonst können Projekte schnell scheitern. Es muss ein Konsens bestehen, dass man die Partizipation von Kindern und Jugendlichen ermöglichen möchte. Das bedeutet auch, gemeinsam hinzustehen und das nach aussen hin zu vertreten. Eine gemeinsame Haltung ist hierbei zentral. Partizipation muss zudem immer wieder neu ausgehandelt werden, denn sie verändert sich. Weiter muss man sich bewusst sein, dass zwischen Schülerinnen und Schülern sowie Lehrpersonen ein Machtungleichgewicht besteht und Partizipation im Schulkontext deshalb immer ein Spagat bedeutet zwischen Autonomie und Abhängigkeit. Es gilt, die Balance zu finden.

Angenommen, eine Schule entscheidet sich für ein Partizipationsprojekt wie zum Beispiel ein Schülerparlament. Muss dann jedes Kind seine Meinung sagen?

Einen Zwang darf es nicht geben. Es ist auch eine Form von Partizipation, Nein zu sagen. Es soll aber jedes Kind sowie jede und jeder Jugendliche die Chance haben, sich zu beteiligen. Die Herausforderung besteht darin, die Teilnahme für alle zu ermöglichen und nicht bereits im Vorfeld vorgefertigte Rollen zu definieren. Die gleichberechtigte Chance zur Teilnahme sollte möglich sein.

Welche Aufgabe erfüllt die Schulsozialarbeit?

Es ist eine zentrale Funktion der Schulsozialarbeit, die Partizipation zu fördern. Sei es, dass sie als neutraler Partner die Schule dabei unterstützt, entsprechende Projekte in die Wege zu leiten, oder dass sie einzelne Kinder in ihrer Partizipationsentwicklung unterstützt. Ich arbeite seit neun Jahren mit Kindern und Jugendlichen und habe dabei die Erfahrung gemacht, dass sie viel besser lernen und viel enthusiastischer bei der Sache sind, wenn sie mitgestalten dürfen. Partizipation führt für mich klar zu einem Mehrwert in der pädagogischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen.

Sie haben in ihrer Masterarbeit – basierend auf dem Erkenntnisgewinn – 15 Handlungsleitsätze für die Praxis der Schulsozialarbeit abgeleitet. Was passiert nun damit?

Ich wollte in meiner Masterarbeit etwas Praxisnahes und Handfestes schaffen. Die Handlungsleitsätze sind ein Instrument, das alle Fachpersonen im schulischen Umfeld nutzen können, wenn sie Kinder und Jugendliche partizipieren lassen wollen. Das Papier dient auch denjenigen, die noch wenig Wissen in diesem Bereich haben, denn die wichtigsten Erkenntnisse aus der Forschung sind darin festgehalten. Mein Ziel ist es, die Handlungsleitsätze bekannt zu machen. Ich konnte sie bereits in meiner Intervisionsgruppe vorstellen und den darin vertretenen Schulen weitergeben.

Welche offenen Fragen bleiben auch nach der Masterarbeit bestehen?

Experten sind sich noch nicht einig, inwiefern Kinder und Jugendliche, die partizipieren, in ihrer Resilienz gestärkt werden, sprich in der Widerstandsfähigkeit gegen Stress und die Widrigkeiten des Lebens. Hätte die Partizipation einen positiven Einfluss darauf, würde noch viel mehr für Mitwirkungsprozesse an Schulen sprechen. Denn die Resilienz ist wohl eine der wichtigsten Eigenschaften, um in der Gesellschaft mit immer höheren Anforderungen bestehen zu können.

Nelly Knöpfel hat den M.Sc in Psychosozialer Beratung absolviert. Die FHS St.Gallen bietet diesen Studiengang in Kooperation mit Schloss Hofen an – dem Wissenschafts- und Weiterbildungszentrum des Landes Vorarlberg und der FH Vorarlberg. An letzterer hat Nelly Knöpfel ihre Masterarbeit eingereicht.

*Anlässlich des Jubiläumsjahres der UN-Kinderrechtskonvention findet an der FHS St.Gallen ein Community-Anlass Schulsozialarbeit statt. Die Teilnehmenden gehen der Frage nach,  wie Partizipation in der Schule durch die Schulsozialarbeit gefördert und zum integralen Bestandteil einer Schulhauskultur werden kann.


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