Die Einwohner sind Experten

Immer häufiger bauen Behörden bei Projekten im öffentlichen Raum auf die Meinung der Bevölkerung. In der Gemeinde Flawil konnte diese bei der Neugestaltung des Marktplatzes im Ortszentrum mitreden. Die FHS St.Gallen hat den Prozess begleitet. Die Hochschule vermittelt im CAS Kommunalpolitik zudem Wissen rund um Mitwirkungsverfahren. Diese liegen im Trend. Denn Entscheide, die breit abgestützt sind, stossen beim Stimmvolk auf eine grössere Akzeptanz und scheitern seltener, was Zeit und Geld spart.

Sie sind auf den örtlichen Strassen unterwegs, nutzen Vereinsräume, sie kaufen im Dorf ein oder betreiben dort sogar selbst einen Laden: Einwohnerinnen und Einwohner sind Experten, wenn es um die Frage geht, welche Anforderungen die Infrastruktur ihrer Wohngemeinde erfüllen soll. Und es ist ihnen zunehmend ein Anliegen, bei der Gestaltung öffentlicher Bauvorhaben mitzureden. Das stellt Stefan Tittmann, Leiter des Ostschweizer Zentrums für Gemeinden der FHS St.Gallen (OZG-FHS), seit längerem fest. «Die Ansprüche haben sich stark gewandelt», sagt er. Lasse man die Bevölkerung teilhaben, sei dies aber auch im Sinne der Verantwortlichen. «Mitwirkungsprozesse helfen, mögliche Schwachstellen frühzeitig zu erkennen und zu beheben, bevor es an der Urne um ein Ja oder Nein zum Projekt geht.» Damit verringere sich auch das Risiko von Einsprachen und blockierten Verfahren.

Die Neugestaltung des Marktplatzes in Flawil orientiert sich am Projekt der Schmid Landschaftsarchitekten und
Esch Sintzel Architekten. Visualisierung: nightnurse images

Begleitgruppe als Resonanzgremium

Stefan Tittmann und Raimund Kemper, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Soziale Arbeit der FHS St.Gallen (IFSAR-FHS), haben 2018 die Gemeinde Flawil bei einem Mitwirkungsprozess begleitet. Dies im Zusammenhang mit der Neugestaltung des Marktplatzes im Ortszentrum. Der Gemeinderat Flawils hat die Bevölkerung ins Boot geholt. Sie bekam regelmässig die Gelegenheit, sich über das Projekt zu informieren und mitzudiskutieren. Von Anfang an ins Projekt involviert wurde eine Begleitgruppe, bestehend aus Vertreterinnen und Vertretern politischer Parteien, des Gewerbes, der Nachbarschaft, der IG Kultur und des Naturschutzvereins Flawil – eine Art Resonanzgremium für den Gemeinderat. Später kamen direkt Betroffene sowie Anspruchsgruppen – darunter Kulturvereine, Marktfahrende, Gewerbetreibende, Mieter- und Eigentümerschaften – dazu, um in Informations- und Workshopveranstaltungen ihre Ansichten und Erfahrungen einzubringen. Aufgabe der FHS St.Gallen war es, den Austausch zwischen den rund 60 Personen aus den Anspruchsgruppen, den 40 Mitgliedern der Begleitgruppe, den Behörden und dem Planungsteam zu moderieren und zu dokumentieren.

Die Teilnehmenden diskutierten auf der Grundlage eines Projekts von Schmid Landschaftsarchitekten sowie Esch Sintzel Architekten aus Zürich. Dieses war zuvor als Siegerprojekt aus dem Studienauftrag hervorgegangen. Die Pläne des Architektenteams sehen auf dem rund 4000 Quadratmeter grossen Areal eine Markthalle mit einer Holzkonstruktion als zentrales, prägendes Element vor. Diese soll unter ihrem Dach ein Kulturhaus mit Platz für 100 Personen beherbergen sowie eine witterungsgeschützte Freifläche, beispielsweise für den Wochenmarkt. Darunterliegend ist eine Tiefgarage geplant. Bezüglich Umgebungsgestaltung ist der Bau eines Kiesplatzes mit einem Baumhain vorgesehen. Ebenfalls sollen zwei Bäche offengelegt und zwischen Natursteinmauern geführt werden.

Ängste abbauen

Gemäss Stefan Tittmann und Raimund Kemper ist dieser Mitwirkungsprozess genauso wichtig wie der Projektplan selbst. «Die Bauten sollen ja nicht nur dort stehen, sondern auch belebt und bespielt werden», sagt Kemper. Das Architektenteam habe «die Hülle» geschaffen. Diese zu konkretisieren, sei Aufgabe der Anspruchsgruppen. Dass zum Beispiel im Kulturhaus eine Bühne gebaut werde, sei durch das Projekt vorgegeben. Die Anspruchsgruppen könnten aber mitreden, etwa wenn es um die Frage gehe, welche Höhe diese aufweisen müsse und ob sie ein Geländer benötige.

Stefan Tittmann sagt: «Mitwirkungsprozesse machen neben Bedürfnissen auch Ängste deutlich, auf die es sich oft lohnt, vertieft einzugehen.» In Flawil löste beispielsweise die Offenlegung der Bäche offene Fragen aus. Anstösser befürchteten, Perimeterbeiträge bezahlen zu müssen. Um Klarheit zu schaffen, wurde das Thema in einem weiteren Treffen vertieft. Dabei konnten die Verantwortlichen zusätzliche Informationen vermitteln, etwa dass eine Offenlegung wegen des Hochwasserschutzes unumgänglich ist.

Bedenken gab es auch zur den künftigen Parkiermöglichkeiten. Durch die Neugestaltung des Marktplatzes fallen einige Parkplätze weg. Für Raimund Kemper ein klassisches Beispiel, das Unmut bereitet. Vor allem bei Gewerbetreibenden. Bei diesen sei die Angst meist gross, dadurch Kunden zu verlieren. «In solchen Fällen versuchen wir klar zu machen, dass im Gegenzug eine Flaniermeile mit hoher Aufenthaltsqualität entsteht, die wiederum Fussgänger und damit potentielle Kunden anlockt.»

Würden Fragen wie diese erst bei der Abstimmung diskutiert, wäre die Akzeptanz gegenüber einem Projekt deutlich geringer, sagt Stefan Tittmann. «So aber konnten die Verantwortlichen die Knackpunkte identifizieren, Anpassungen vornehmen und ihre Entscheide begründen.» Für Tittmann birgt der Mitwirkungsprozess einen weiteren grossen Vorteil: «Es können auch Menschen ohne Stimmrecht mitreden», sagt er. Zum Beispiel Jugendliche und Kinder. Sie wurden im September 2018 zu Begehungen vor Ort eingeladen und konnten in diesem Rahmen ihre Anliegen, Ideen und Vorschläge zur Neugestaltung des Marktplatzes einbringen.

Instrument für die Umsetzung

Die Beteiligungsphase endete im November 2018 und mit ihr das Engagement der FHS St.Gallen. Die Ergebnisse aus dem Mitwirkungsprozess hat Raimund Kemper vom Institut für Soziale Arbeit in einem Grundlagenbericht zum Projekt Neugestaltung Marktplatz Flawil festgehalten. Auf der Basis dessen wird das Architektenteam nun ein Vorprojekt erarbeiten.  Dies, unter Berücksichtigung der im Bericht erwähnten Bedürfnisse und Anliegen, welche die Beteiligten während des Mitwirkungsprozesses geäussert haben. Danach wird der Gemeinderat über das weitere Vorgehen beschliessen.

Bevor es zur Abstimmung über einen Baukredit kommt, muss das Projekt zur Neugestaltung des Marktplatzes laut Gemeindepräsident Elmar Metzger mit verschiedenen Komponenten wie dem Hochwasserschutz und der Neugestaltung der angrenzenden Strasse verwoben werden. «Ziel ist es, die entsprechenden Pläne gleichzeitig öffentlich aufzulegen», sagt er.

Elmar Metzger ist überzeugt, dass der Mitwirkungsprozess die Zustimmung und Begeisterung für das Projekt Neugestaltung Marktplatz erhöht hat. Vor Jahren sei es vorgekommen, dass ein Projekt wegen unbeantworteter Fragen gescheitert sei. «Dank des Mitwirkungsprozesses kennen wir die Bedürfnisse der Bevölkerung im Detail und können entsprechend darauf reagieren», so Metzger. Die Begleitung durch die FHS hat er positiv erlebt. «Die FHS hat viel Erfahrung und eine neutrale Haltung eingebracht.»

CAS Kommunalpolitik
«Ein Mitwirkungsprozess wie er im Zusammenhang mit der Neugestaltung des Marktplatzes in Flawil stattgefunden hat, ist noch nicht Standard», sagt Stefan Tittmann, Leiter des Ostschweizer Zentrums für Gemeinden der Fachhochschule St.Gallen. Es sei aber ein Trend in diese Richtung zu beobachten. Denn: Entscheide, die breit abgestützt sind, stossen beim Stimmvolk auf eine grössere Akzeptanz und scheitern seltener, was letztlich auch Geld und Zeit spart. Die FHS St.Gallen vermittelt im CAS Kommunalpolitik Wissen rund um solche Mitwirkungsprozesse, aber auch andere Grundlagen der Kommunalpolitik. Der Zertifikatslehrgang besteht unter anderem aus einem Projekt, das die Teilnehmenden in ihrer Gemeinde durchführen können – unter fachlicher Begleitung durch Expertinnen und Experten. Zum Zielpublikum des CAS Kommunalpolitik gehören Personen, die mit einem politischen Amt betraut sind wie zum Beispiel Gemeindepräsidentinnen und -präsidenten oder Behörden- und Kommissionsmitglieder. Weiter richtet sich der Lehrgang an Führungskräfte der Gemeindeverwaltung sowie Vertreterinnen und Vertreter von Stabstellen. Angesprochen sind aber auch Parteiverantwortliche in unterschiedlichen Funktionen oder Fachpersonen, die an der Schnittstelle zur Politik arbeiten.