In der stillen Welt

Sie braucht die Augen fürs Lesen und das visuelle Zuhören: Die 45jährige Marisa Rohr ist seit Geburt gehörlos und lässt sich zur sozialpädagogischen Familienbegleiterin ausbilden. Die Weiterbildung unter ausschliesslich Hörenden ist für sie eine «grosse Herausforderung».

Mitte September hat an der FHS St.Gallen der CAS Sozialpädagogische Familienbegleitung begonnen. Dabei lernen die Teilnehmenden unterschiedlich herausfordernde Lebenssituationen von Familien und Einzelpersonen kennen und wie damit professionell umgegangen wird. Unter den Teilnehmenden ist auch Marisa Rohr. Die 45jährige Mutter dreier erwachsenen Kinder wohnt in Arth-Goldau und arbeitet in Zürich. Für den Lehrgang an der FHS fährt sie bis im Frühling 2020 regelmässig mit dem Zug nach St.Gallen. Eigentlich nichts Ungewöhnliches. Doch Marisa Rohr ist gehörlos.

Im Weiterbildungslehrgang ist sie die einzige Gehörlose. Eine Sonderbehandlung will sie deswegen aber nicht. «Die brauche ich auch nicht», sagt sie und fügt mit einem Augenzwinkern an: «Es genügt, dass die Gebärdensprachdolmetscherinnen und -dolmetscher da sind.» Die aber braucht sie. «Auch dank ihnen bin ich gut gestartet.» An allen Unterrichtstagen sind immer zwei Gebärdensprachdolmetschende anwesend. Sie sitzen nahe bei den Dozierenden, immer im Sichtfeld von Marisa Rohr, und übersetzen alles, was die Dozierenden und die Kommilitonen sagen in Gebärdensprache, und das, was Marisa Rohr in Gebärdensprache mitteilt, verdolmetschen sie für die Hörenden in Lautsprache. Das ist an einem vollgepackten Schultag ziemlich viel. Deshalb wechseln sich die beiden Dolmetschenden alle 15 Minuten ab.

Beim Mitdiskutieren wird es schwierig

Für Marisa Rohr ist der Weiterbildungslehrgang eine grosse Herausforderung – und anstrengend. Als Gehörlose braucht sie ihre Augen fürs Lesen und für das visuelle Zuhören. Sie muss praktisch gleichzeitig den Gebärden der Dolmetscherinnen und Dolmetschern folgen, die Folien an der Wand lesen und sich Notizen machen. «Das mit dem Mitschreiben klappt nicht immer», sagt sie. «Nach zwei Unterrichtstagen am Stück bin ich am Abend jeweils sehr müde.» Zu schaffen machen ihr manchmal die Fachwörter, die sie oft auf Anhieb nicht versteht und dann nachschauen muss. «Aber das hat nichts mit meiner Gehörlosigkeit zu tun», sagt sie. Auch hörende Mitstudierende hätten Mühe, die Fremdwörter und Fachbegriffe zu verstehen.

«Der Druck, hören zu müssen, war als Kind da.»

Marisa Rohr

Schwierig hingegen sei es für sie, an Diskussionen teilzunehmen. «Es dauert eben immer ein bisschen länger, bis das Gesagte für mich übersetzt ist.» Wolle sie dann etwas zu einem bestimmten Thema sagen, sei die Diskussion meistens schon weiter fortgeschritten. Trotzdem: Marisa Rohr will sich nicht beklagen. Sie fühle sich in der Klasse vollkommen akzeptiert und die Weiterbildung mache ihr grossen Spass. Animiert wurde sie von ihrer Vorgesetzten. Die Gehörlose arbeitet seit fünf Jahren als Sozialbegleiterin für Schwerhörige und Gehörlose in einem 80-Prozent-Pensum auf der Beratungsstelle in Zürich. «Wir betreuen nicht nur Einzelpersonen, sondern auch viele Familien. Und wenn gehörlose Familien eine gehörlose Begleiterin haben, ist das natürlich super.» In ihrer täglichen Arbeit unterstützt sie aber nicht nur gehörlose Familien, sondern auch hörende Eltern mit gehörlosen Kindern oder hörende Kinder mit gehörlosen Eltern.

Hörgeräte für immer weggelegt

Marisa Rohr ist seit Geburt gehörlos, ihre Eltern und ihre Schwester sind es auch. «Wenn beispielsweise auf der Strasse ein Lastwagen neben mir vorbeifährt, kann ich die Vibrationen über meinen Körper spüren.» Die Bernerin hat die Gehörlosenschule auf Primar- und Sekundarstufe besucht und dabei unter anderem auch die deutsche Lautsprache und das Lippenlesen gelernt. «Die Deutschschweizerische Gebärdensprache wurde einem nicht in der Schule beigebracht, sie war damals sogar verboten», sagt sie. «Weil meine Eltern und meine Schwester ebenfalls gehörlos sind, kommunizierten wir zu Hause in Gebärdensprache.» Bis im Alter von 15 Jahren trug sie zudem Hörgeräte. Damit konnte sie auf beiden Ohren Geräusche und Töne wahrnehmen. «Der Druck, hören zu müssen, war als Kind da. Doch irgendwann merkte ich, dass mir die Hörgeräte nichts bringen und ich legte sie weg. Für immer.»

Mittlerweile hat Marisa Rohr selber drei Kinder. Sie sind auch gehörlos und führen inzwischen ihr eigenes Leben, verstreut in der ganzen Schweiz. «Sie sind alle drei sehr gut in der hörenden Gesellschaft integriert», sagt die Mutter sichtlich stolz. Meistens sei es für das Umfeld schlimmer, wenn es mitbekomme, dass die Kinder gehörlos seien. «Wir aber kennen es nicht anders. Für uns ist es nichts Aussergewöhnliches.» Von den hörenden Menschen würde sie sich deshalb wünschen, dass die sie auch so akzeptieren und das Wort «taubstumm» aus ihrem Sprachgebrauch streichen würden. «Der Begriff kommt aus einer Zeit, in der die Gehörlosen nicht gesprochen haben», sagt sie. «Die meisten Gehörlosen heutzutage können die Lautsprache, und wenn die Hörenden ein paar Gebärden lernen und ein bisschen Geduld haben, können wir uns auch gut unterhalten.»