«Einbezug ist das A und O»

Wenn Kinder und Jugendliche physischer oder psychischer Gewalt ausgesetzt sind oder unter Verwahrlosung leiden, ist die KESB gefordert. Céline Fäh, Absolventin des MAS in Psychosozialer Beratung an der FHS St.Gallen, arbeitet bei der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde. In Ihrer Masterarbeit hat sie Methoden aufgezeigt, mit deren Hilfe Sozialarbeitende, die bei der KESB tätig sind, betroffene Kinder und Eltern an der Suche nach guten Lösungen beteiligen können. Im Interview spricht die Sozialarbeiterin darüber, warum Begegnungen auf Augenhöhe mehr bewirken als mahnende Zeigefinger und was es braucht, damit der Kindesschutz in der Schweiz nicht mehr vom Wohnort der Betroffenen abhängig ist.

Frau Fäh, Sie arbeiten bei der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde KESB. Welche Prozesse laufen da ab, wenn Kinder oder Jugendliche möglicherweise Schutz benötigen?

Wir werden als Behörde aktiv, sobald eine Gefährdungsmeldung eingeht. Zum Beispiel, wenn uns eine Schule meldet, dass ein Kind öfters verwahrlost zum Unterricht kommt oder ein auffälliges Verhalten zeigt. Es ist unsere Aufgabe, solchen Meldungen nachzugehen. Bei unserer Arbeit richten wir uns jedoch stets nach dem Prinzip der mildesten Massnahme. Das bedeutet, dass wir zuerst schauen, wie die betroffenen Kinder und Eltern konkret unterstützt werden können, damit sich die Situation verbessert und stabilisiert. Nur wenn all diese Unterstützungsleistungen nicht greifen, kann es zu rechtlichen Massnahmen wie beispielsweise einer Beistandschaft oder gar einer Fremdplatzierung kommen.

Im Rahmen Ihrer Masterarbeit haben Sie eine Methodik zur Beteiligung von Kindern und Eltern bei der Kindeswohleinschätzung ausgearbeitet. Wie wichtig ist dieser Einbezug und wie sollte er aussehen?

Der Einbezug respektive die Partizipation der Betroffenen ist das A und O. Wenn Eltern und Kinder teilhaben können, steigert das die Qualität und Wirksamkeit der KESB-Arbeit massgeblich. Ziel ist es, mit den betroffenen Familien eine kooperative Zusammenarbeit und einen Austausch auf Augenhöhe zu pflegen. Dabei gilt es, transparent und offen zu kommunizieren, denn nur so kann Vertrauen entstehen. Die Eltern haben ein Recht darauf, zu erfahren, worum es konkret geht.

Was, wenn die Eltern uneinsichtig sind und sich quer stellen?

Natürlich gibt es immer wieder Situationen, in denen Eltern eine andere Vorstellung davon haben, was für ihr Kind richtig ist. Wichtig ist, als Behördenmitglied nicht belehrend oder wertend aufzutreten, sondern neutral aufzuzeigen, dass es dem Kind momentan nicht gut geht. Als abklärende Fachperson sollte man sich immer vor Augen führen, dass alle Eltern grundsätzlich gute Eltern sein wollen und ihren Fähigkeiten entsprechend handeln.

«Als abklärende Fachperson sollte man sich immer vor Augen führen, dass alle Eltern grundsätzlich gute Eltern sein wollen und ihren Fähigkeiten entsprechend handeln.»

Céline Fäh, Sozialarbeiterin, Absolventin des MAS in Psychosozialer Beratung

Der mahnende Zeigefinger ist also fehl am Platz. Stattdessen kann man die Eltern beispielsweise fragen, welche Ideen sie haben, um die Situation der Tochter oder des Sohnes zu verbessern. Dazu gibt es spezifische Methoden, welche die Ressourcenorientierung und Selbstwirksamkeit von Familiensystemen fördern.

In Ihrer Arbeit haben Sie solche Methoden aus der psychosozialen Beratung dahingehend konkretisiert, dass Sozialarbeitende, die bei der KESB tätig sind, diese auf Kindeswohleinschätzungen anwenden können. Zum Beispiel?

Eine ressourcenorientierte Methode ist beispielsweise das Mapping. Dabei liegt der Fokus nicht nur auf den Schwierigkeiten, sondern eben auch auf den Ressourcen und Stärken der Familie. Es ist ein wesentlicher Bestandteil dieses Ansatzes, dass die Familienmitglieder, auch die Kinder, nach ihrer erwünschten Zukunft befragt werden. Besonders geeignet für den Einbezug von Kindern ist auch das sogenannte Drei-Häuser-Modell: Im «Haus der guten Dinge» kann das Kind erzählen, was gut läuft. Sei es, dass die Mutter bei den Hausaufgaben hilft oder die Eltern sich hin und wieder vertragen. Im «Haus der Sorgen» hat es die Möglichkeit, über Belastendes zu sprechen. Im «Haus der Träume und Wünsche» geht es um die Frage, was passieren müsste, damit sich die Situation verbessert. Manchmal führen kleinere Änderungen zu einer grossen Wirkung. Es geht darum, einen Prozess zur Zielerreichung in Gang zu setzen und die Beteiligten dabei zu stärken und kompetenzorientiert einzubeziehen.

Lässt man Kinder bei Kindeswohlabklärungen heute zu wenig zu Wort kommen?

In der Schweiz wird das Kinderrecht auf Mitsprache und Teilhabe nach wie vor zu wenig konsequent umgesetzt. Das mag viele Gründe haben: sei es Überforderung oder Unsicherheit. Klar ist, dass Fachpersonen vermehrt über Methoden verfügen müssen, wie sie Kinder teilhaben lassen können an diesem Prozess. Es ist zentral, dass die Wünsche, Bedürfnisse und allenfalls Ängste der Betroffenen thematisiert werden können. Und es ist unsere Pflicht, die Meinung von Kindern und Eltern anzuhören. Sie sind die Expertinnen und Experten für ihre Lebenswelt.

Als ehemalige Beiständin haben Sie festgestellt, dass der Kindesschutz in der Schweiz je nach Behörde sehr unterschiedlich gehandhabt wird. Weshalb ist das so?

Jeder Kanton kann selbst über Struktur der KESB bestimmen. Einige Kantone haben zum Beispiel einen Abklärungsdienst installiert, der engmaschig mit Fachbehörden interagiert. In anderen Kantonen fehlen solche unterstützenden Dienste. Die Abklärung wird dann oft von einem Behördenmitglied gemacht. Allein durch diese ungleiche Bereitstellung von Ressourcen werden Gefährdungsmeldungen sehr unterschiedlich behandelt.

«Welchen Schutz ein Kind erhält, ist durchaus auch von seinem Wohnort abhängig. Die Konsequenz ist eine Rechts- und Chancenungleichheit.»

Céline Fäh, Sozialarbeiterin, Absolventin des MAS in Psychosozialer Beratung

Dazu kommt, dass in Randregionen weniger präventive Angebote vorhanden sind, um Gefährdungen frühzeitig zu erkennen und abzuwenden. Welchen Schutz ein Kind erhält, ist also durchaus auch von seinem Wohnort abhängig. Die Konsequenz ist eine Rechts- und Chancenungleichheit. Es muss also vermehrt eine strukturelle Vereinheitlichung angestrebt werden.

Welche Voraussetzungen braucht es, um den Kindesschutz zu vereinheitlichen und zum Wohl der Kinder zu handeln?

Aus meiner Sicht ist mit der Gründung der KESB ein wichtiger Grundstein gelegt worden. Die interdisziplinäre Zusammensetzung dieser Behörde bedeutet einen grossen Mehrwert. Im komplexen Aufgabengebiet des Kindesschutzes sind jedoch klar definierte Vorgehensweisen notwendig. Die Fachleute der KESB sind herausgefordert, in kurzer Zeit komplexe Familiensysteme zu erfassen. Für diesen Prozess sind professionell etablierte Standards unabdingbar. Weiter braucht es Öffentlichkeitsarbeit, um Hemmschwellen gegenüber der KESB abzubauen. Auch die Vernetzung mit anderen Fachstellen und Diensten ist wichtig und ausbaufähig. Zum Beispiel jene mit der Mütter- und Väterberatung oder mit Kinderärztinnen und Kinderärzten. Gerade in der frühen Zeit ihrer Elternschaft, also um die Geburt herum, sind Eltern gegenüber Hilfen besonders aufgeschlossen. Sie können Belastungs- und Überforderungsgefühle eher äussern, was für einen gelingenden Kindesschutz von wesentlicher Bedeutung ist. Diese Ausgangslage sollte durch eine gelungene Vernetzung besser genutzt werden.

Was müssen sozialarbeitende Behördenmitglieder mitbringen, damit Kindesschutz gelingt?

Sozialarbeitende Behördenmitglieder haben die Aufgabe, betroffene Familien praxisnah zu unterstützen, damit rechtliche Massnahmen nur dann zum Einsatz kommen, wenn dies unabdingbar ist. In erster Linie geht es immer darum, freiwillige Lösungen zu finden. Sehr wichtig dabei ist eine wertschätzende und empathische Grundhaltung. Denn es gilt, zur betroffenen Familie eine gute Beziehung aufzubauen und deren Kooperation für den Prozess der Zielerreichung zu gewinnen. Auch muss man den Mut haben, unkonventionelle Wege zu gehen und kreative Methoden anzuwenden. Zum Beispiel, um den Zugang zu Kindern zu verbessern und es ihnen zu ermöglichen, über Sorgen und belastende Situationen zu sprechen. Diese psychosoziale Sichtweise sollte vermehrt eingebracht werden. Es braucht engagierte Fachpersonen, die sich mit viel Herzblut für einen hochstehenden Kindesschutz einsetzen und die Bereitschaft mitbringen, fachliche Standards zu implementieren. Betroffene Kinder und Eltern haben ein Anrecht darauf, dass sie in familiären Krisensituationen so rasch wie möglich fachliche Hilfe und Unterstützung bekommen, unabhängig davon, wo sie wohnen.

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